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Kultur: Überleben in Stalins Lager: Janusz Bardachs eindringliche Beschreibung des Alltags im Gulag

Das Schreckenswort Gulag ist das Synonym schlechthin für Polizeiterror, Massenverhaftungen und Vernichtung durch Zwangsarbeit. Sowohl in der westlichen Welt als auch vor allem im heutigen postkommunistischen Russland ruft es nach wie vor Schrecken hervor.

Das Schreckenswort Gulag ist das Synonym schlechthin für Polizeiterror, Massenverhaftungen und Vernichtung durch Zwangsarbeit. Sowohl in der westlichen Welt als auch vor allem im heutigen postkommunistischen Russland ruft es nach wie vor Schrecken hervor. Dies hat seinen Grund: Schätzungsweise 20 Millionen Sowjetbürger sollen bis zu Stalins Tod (1953) durch Erschießungskommandos hingerichtet oder für lange Jahre in den Gulag geschickt worden sein.

Das hinter der verharmlosenden Bezeichnung "Hauptverwaltung des Straflagersystems" (Gulag) verborgene unermessliche Leid und den alltäglichen Terror des Stalinismus schildert nun Janusz Bardach in seinem Buch "Der Mensch ist des Menschen Wolf". Und dies sehr konkret und eindringlich. In seiner schonungslosen Beschreibung des Häftlingsalltags erreicht er dabei bisweilen die Intensität eines Alexander Solschenizyn, der die Welt in seiner Erzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Densissowitsch" von 1962 zum erstem Mal aufgerüttelt hatte.

Genauso wenig wie den Russen hat das Lagerleben Janusz Bardach zerbrechen können. Er überlebte auf wundersame Weise seinen fünfjährigen Aufenthalt in den Arbeitslagern von Kolyma. Anders aber als der russische Literaturnobelpreisträger hat der heute 76-jährige Bardach jahrzehntelang über seine Erlebnisse in der kältesten besiedelten Region der Welt in Nordostsibirien geschwiegen - bis zur englischsprachigen Veröffentlichung seines Buches 1998.

Zweite Identität

In den langen Jahren des Schweigens hatte Bardach sich gleichsam eine zweite Identität aufgebaut: Er wurde zu einem weltweit angesehenen Spezialisten zur Behandlung von angeborenen Gesichtsdeformierungen - bis zu seiner Emigration aus Polen im Jahre 1972 und seiner Tätigkeit als Leiter der plastischen Chirurgie an der Universität in Iowa. Als jüngster Sohn einer gebildeten jüdischen Oberschichtfamilie wurde Bardach 1919 in Ostpolen geboren. Eine unbeschwerte Jugend verbrachte er dort, bis deutsche Truppen am 1. September in Westpolen einmarschierten. Als wenige Wochen nach dem deutschen Überfall Sowjettruppen seine Heimatstadt besetzten, begrüßte Bardach sie als "Befreier".

Diese prosowjetische Haltung wich schnell der Ernüchterung: Die Willkür und Brutalitäten des Geheimdienstes NKWD waren unübersehbar. Die entscheidende Wende in Bardachs Leben trat jedoch ein, als er sich in der Roten Armee auf den Kampf gegen Nazi-Deutschland vorbereitete, das am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen hatte: Als Panzerfahrer blieb er bei der Überquerung eines Flusses mit seinem Fahrzeug im Schlamm stecken und wurde - auch aufgrund von Verleumdung und antijüdischer Ressentiments - als "Vaterlandsverräter" zum Tode verurteilt.

Wunderbare Rettung

Seine wundersame Rettung verdankte Bardach dem Einfluss eines jüdischen NKWD-Offiziers, der dafür sorgte, dass das Todesurteil des Militärgerichts in 10-jährige Lagerhaft unter Bedingungen verschärfter Zwangsarbeit verwandelt wurde. Es folgt die eindringliche Schilderung eines für viele Sowjetbürger typischen Leidensweges: die lange Reise im Viehwaggon unter unmenschlichen Bedingungen, die schwere körperliche Arbeit in den Goldminen von Kolyma, die Brutalitäten zwischen den Gefangenen, die unerträgliche Kälte des Winters. Das Buch lässt die Grausamkeiten des Stalinismus anhand des hautnah und schonungslos beschriebenen Leids konkret werden. Dabei zeigen sich Mechanismen und Strukturen, die Menschen zu Wölfen werden lassen.

Gerald Glaubitz

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