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Der Präsident muss gehen. Frauenrechtlerinnen am 3. Februar in Kiew.

© dpa

Ukraine: Uns regiert der Feind

Opposition aus Verpflichtung: Die ukrainische Bevölkerung verbündet sich gegen Präsident Viktor Janukowitsch.

Das Jahr ist noch jung, aber der Widerstand gegen Viktor Janukowitschs Regierung läuft schon wieder auf Hochtouren. Am 17. Januar fand vor dem Verwaltungssitz des Präsidenten eine von Bürgerrechtsorganisationen veranstaltete Demonstration statt, die sich gegen die weitere Verfolgung der Anführer der Proteste gegen die neuen Steuergesetze für Kleinunternehmer richtete. Vertreter kleiner und mittlerer Unternehmen hatten im November massenhaft ihrem Unmut über neue Abgaben Luft gemacht, die auch Rentner betreffen, die ihre mageren Einkünfte mit kleinen Geschäften aufzubessern versuchen. Janukowitsch und seine Mannschaft übten damals umgehend Vergeltung. Die Zeltstadt der Protestler auf dem Kiewer Majdan Nesaleschnosti, dem Unabhängigkeitsplatz, wurde brutal geräumt.

Die Unzufriedenheit der Ukrainer ist seitdem noch gewachsen – und die Entschlossenheit, weiterhin Widerstand zu leisten, ungebrochen. Dabei wird der politische Gehalt der Auseinandersetzungen bewusst heruntergespielt. Es stehen durchweg sozioökonomische Fragen im Mittelpunkt. Die zersplitterte ukrainische Opposition weiß, dass sich angesichts der totalen Diskreditierung aller politischen Kräfte kaum jemand für die eine oder andere Partei mobilisieren lässt. Die bürgerrechtlichen Zusammenschlüsse, die die Unternehmerproteste organisiert hatten, erheben deshalb auch nur rein wirtschaftliche Forderungen. Diese Taktik ist durchaus erfolgreich. Die Ukrainer haben keine Lust mehr, die Führer von gestern zu unterstützen.

Auch die Serie von polizeilichen und staatsanwaltlichen Aktionen, mit denen das letzte Jahr zu Ende ging, zeugen nicht gerade von Janukowitschs Wunsch nach Ausgleich und Verständigung. Die Verhaftung des früheren Innenministers Jurij Luzenko und der Protestler auf dem Majdan-Platz sowie die ständigen Vorladungen der pro-russischen Oppositionsführerin Julia Timoschenko, die wegen Korruption und Veruntreuung während ihrer Zeit als Premierministerin gerade von Neuem angeklagt wird, fachen den Widerstand weiter an und geben Timoschenko erneut Gelegenheit, die revolutionäre Stimmung für sich zu nutzen.

Nach einem Jahr Präsidentschaft sind Janukowitsch und seine Partei der Regionen gezwungen, nun zu handeln. Während man kurz nach dem Wahlsieg, auf der Welle der ersten Euphorie, alle Missstände noch auf die Vorgänger schieben konnte, sind solche Schuldzuweisungen heute unglaubwürdig. Denn die neue Mannschaft hat nichts Nennenswertes erreicht. Außer der überwiegend mit Vertretern aus dem ostukrainischen Donezk vorgenommenen Stärkung der „Vertikale der Macht“ nach russischem Vorbild ist der Regierung nichts gelungen. Die von Janukowitsch in Aussicht gestellten Reformen werden sogar immer fragwürdiger. Die Verwaltungsreform ist zu einem undurchschaubaren personellen Rotationsspiel geworden, bei dem die Strukturen zuerst abgeschafft und dann wiederbelebt wurden – fast ausschließlich mit Janukowitschs Leuten.

Auch die Außenpolitik hat sich in Misskredit gebracht. Besonders die Charkiwer Verträge, in denen es um die Verlängerung des Aufenthaltsrechts für die Russische Schwarzmeerflotte auf der Krim im Tausch gegen eine versprochene Senkung der Gaspreise geht, wirken dubios. Der Skandal um die Unentschlossenheit der Ukraine bei der Teilnahme an der Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo oder die Glückwünsche von Viktor Janukowitsch an den weißrussischen Diktator Alexander Lukaschenko nach dessen Wahlsieg sind weitere Beispiele.

Dieses Abdriften in postsowjetisch-totalitäre Gefilde kann die Proteste nur verstärken. Während Teile der Bevölkerung Janukowitsch vor einem Jahr noch ziemlich unkritisch sahen, hat sich dies nun gewandelt. Opposition ist zur zivilgesellschaftlichen Verpflichtung geworden. So verachten auch die meisten Vertreter aus Kunst und Kultur jede Zusammenarbeit mit den derzeitigen Machthabern als Kollaboration.

Schließlich geht es auch um humanitäre und kirchliche Angelegenheiten, Geschichts- und Sprachfragen. Hierzu gehören der Druck auf die Massenmedien und die Meinungsfreiheit, die Aktivierung des Geheimdienstes und die Besetzung von Führungsposten mit zwielichtigen Gestalten, etwa dem verhassten Bildungsminister Dmitrij Tabatschnik, den viele für einen Feind der Ukraine halten. Im zwanzigsten Jahr der Unabhängigkeit sieht sich die ukrainische Gesellschaft plötzlich damit konfrontiert, die Errungenschaften der vergangenen 19 Jahre gegen die selbst gewählte feindliche Staatsmacht verteidigen zu müssen.

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. – Der Autor, 1974 in der Ostukraine geboren, ist derzeit Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Im Suhrkamp Verlag erschien zuletzt sein Roman „Hymne an die demokratische Jugend“.

Serhij Zhadan

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