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Erkundung deutscher Regionen. Ulf Erdmann Ziegler verschlägt es in seinem neuen Roman ins Rheinische.

© Ullstein Bild /Jürgen Bauer

Ulf Erdmann Ziegler: „Ich brauche Stoffe mit Widerstand“

Der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler über Typografie, Katholizismus und seine Chancen auf den Deutschen Buchpreis.

Herr Ziegler, Sie sind Kunstkritiker und Essayist und haben erst im Alter von 47 Jahren als Romanschriftsteller debütiert, 2007 war das mit „Hamburger Hochbahn“. Warum hat das so lange gedauert?

Alles, was ich vorher geschrieben habe, habe ich zurückgehalten oder es ist verloren gegangen. Romanstoffe trage ich praktisch seit dem 8. Lebensjahr mit mir herum, was mir aber nichts geholfen hat. Bis weit ins Erwachsenenalter hinein hatte ich das Gefühl, meine literarische Stimme nicht gefunden zu haben. Auf den Moment habe ich, zu lang vielleicht, gewartet.

Sie sind also kein Kritiker, der nebenher Bücher schreibt, sondern im Erstberuf Schriftsteller?

Aber natürlich. Sonst ginge das gar nicht. Meine literarischen Bücher sind keine Nebenprodukte journalistischer Tätigkeit. Die hatte ich schon damals stark heruntergefahren, als der Entwurf für die „Hamburger Hochbahn“ stand. Das war vor gut zehn Jahren, als ich mich endlich der Frage gestellt hatte: Du wolltest immer Fiktion schreiben, warum hast du es dann nicht getan?

Kann man das als eine späte Selbstverwirklichung bezeichnen?

Nein, überhaupt nicht. Romane zu schreiben hat für mich nichts mit Selbstverwirklichung zu tun, auch nicht mit Unterhaltung. Ich fühle mich auch nicht unbedingt gut beim Schreiben, dieser Zwang zu Stille und Ruhe!, aber umso besser, wenn das Tagwerk getan ist.

Wie war das bei Ihrer Heldin Marleen aus Ihrem jetzt zweiten, für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Nichts Weißes“? Ungewöhnlich ist ja nicht nur, dass Ihre Hauptfigur Anfang zwanzig, sondern auch weiblich ist.

Dafür gibt es zwei Anlässe. Vor gut zwanzig Jahren habe ich eine junge Frau im Zug kennengelernt, die mir erzählt hat, wie sie ihrem abgehauenen Vater nach vielen Jahren wiederbegegnet ist. Und dieser bei ihrem Gespräch nicht für einen Moment die Sonnenbrille abgesetzt hat. Das ist mir nachgegangen, da habe ich mich oft gefragt, wie man das erzählerisch gestalten kann. Das habe ich mir aufbewahrt.

Und der andere Anlass?

Das war ein Gespräch mit einer Bekannten, auch schon vor acht oder neun Jahren, die mir erzählte, dass alle ihre Lebenspläne zerstört seien – dass sie gescheitert sei. Ich habe dagegengehalten, ich wollte das nicht glauben, aber am Ende war ich mir selbst nicht mehr sicher. Von da an war mir klar, dass ich ein Buch über die berufliche Sozialisation einer jungen Frau schreiben werde.

Warum wird diese Marleen ausgerechnet Typografin? Das Thema der Schrift, der Schrifttypen durchzieht den Roman ja als Hauptstrang.

Ich brauchte einen Stoff, der einen starken Widerstand bietet, der sollte nicht glatt sein. Das Milieu der Gestaltung fand ich schon immer faszinierend: Darin muss auf Sprache und Bilder geachtet werden, da geht es zugleich um Verstehen und Nichtverstehen – durch die Dinge hindurchgucken. Richtige typografische Gestaltung ist so ein Mittelding zwischen Setzen und Tontöpfern, zwischen Konkretion und Abstraktion. Das finde ich hoch spannend.

Die Romanpassagen, in denen es konkret um Marleens Tätigkeit geht – erst als Praktikantin in Nördlingen, dann als Studentin in Kassel und schließlich ihre Arbeit in Paris –, diese Passagen, in denen Sie versuchen, das Handwerk der Schriftgestaltung genau zu beschreiben, sind mitunter schwer zu lesen.

Ja, das habe ich natürlich befürchtet, dass es zu detailliert werden könnte und die Leute dann nicht mehr interessiert. Der Punkt aber ist: Wenn der Beruf einer Figur in einem Roman nicht nur Dekor sein soll, muss man in medias res gehen. Ich habe da beim Schreiben auch sehr lange für gebraucht. Die Stelle, in der erläutert wird, was eine Fotosatzmaschine leistet, habe ich bestimmt zehn, zwölf Mal umgeschrieben. Es geht nicht darum, ob ich das selbst begriffen habe oder ob es bereits irgendwo „korrekt“ nachzulesen ist. Es muss noch immer hinein in den Roman. Beim Schreiben bedeutet das manchmal, dass das Richtige hinter das Bildliche zurücktritt.

Marleen träumt als junges Mädchen von der Schrift, die man nicht bemerkt, die man nicht sieht. Das allein ist schon ein sehr abstrakter Vorsatz, ein Bild, das man sich bei der Lektüre schwer vorstellen kann. Zumal wir von Schrift umgeben sind, sie aber lesen – und nicht anschauen, wie sie gestaltet ist.

Das stimmt. Jeder, der liest, hat gelernt, die Schrift nicht mehr zu betrachten. Würde man sie sehen, könnte man nicht mehr lesen. Marleens Anspruch ist also eine Tautologie, was damit zu tun hat, dass sie Legasthenikerin ist: Sie möchte gern lesen können und dabei keine Widerstände überwinden müssen. Im Grunde ist das ein lächerlicher Plan. Nur habe ich diesen Plan Marleens verknüpft mit einer gewissen Strömung der Moderne, in der es um eine Schrift für alle ging, die für jeden Zweck tauglich ist, so wie es zuerst die Futura sein sollte, dann vor allem aber die Helvetica, später die Frutiger und die Univers.

Ein anderer Strang, der sich durch den gesamten Roman zieht, ist der Katholizismus, auch im Gegensatz zur säkularisierten Schriftgläubigkeit Marleens.

Ja, ich wollte in der Tat so weit wie möglich von mir weg. Ich bin selbst im Norden als Kind von Protestanten aufgewachsen. Indem ich Neuss als Schauplatz hatte, musste diese rheinländisch-katholische Milieuschilderung natürlich mit rein. Die rheinische Wurzel gab es schon, denn meine Großeltern lebten in Köln, seitdem ich denken konnte. Wichtig war, was mir später ein Kölner, heute Professor in Paris, erzählt hat. Er, ein Junge, kommt nach Haus und erzählt seiner Mutter, dass sie auf der Straße die Protestanten verkloppt haben. Sie aber ist darüber gar nicht glücklich. Er musste von ihr lernen, dass sie für die Ehe mit seinem Vater konvertiert war. Der Umstand, dass man sich wegen der Konfession noch in den sechziger Jahren auf offener Straße geprügelt hat – das hat mich geschockt. Das ist eingegangen in den Roman, als konfessioneller Riss durch Welt … von Kindern.

Man hat ja überhaupt den Eindruck bei Ihren drei bisher veröffentlichten literarischen Büchern, dem Roman „Hamburger Hochbahn“, dem autobiografischen Buch „Wilde Wiesen" und nun dem neuen Roman, dass Sie sich sehr an der Bundesrepublik, wie es sie bis 1989 gab, abarbeiten. Sie kartografieren dieses verschwundene Land geradezu, ohne dass Politik darin eine große Rolle spielen würde.

Das kann man sagen, ich mache Regionenkunde, wenn Sie so wollen. Der Epochenbruch, die Wende ist nur angedeutet, mit der Überschrift der „New York Times“, die Marleen in New York liest, „New Parliament Meets in Reichstag“. Der politische Horizont spielt schon eine Rolle. Ich bin aber dagegen, Romane mit zeitgeschichtlichen Zäsuren volkshochschultauglich zu machen. Für Marleen ist der aufziehende digitale Umbruch viel wichtiger. Man muss bei seinen Figuren bleiben! Absurd war ja der Vorwurf, „Nichts Weißes“ wäre zu vielschichtig codiert – mit zu viel Bedeutungen aufgeladen.

Aber es sind ja auch viele Codierungen drin. Wer ist denn für Sie der ideale Leser ?

Am liebsten höre ich, wenn jemand sagt, er hätte dies oder das gar nicht bemerkt, diesen oder jenen Zusammenhang gar nicht mitgelesen. Ich bin ja kein elitärer Autor! Von mir aus kann man das Buch als Unterhaltungsstück lesen und darin die Elementarparabel Westdeutschland erkennen. Oder als Roman über Typografie, in dem man was lernt über Schriften und Schrifttypen. Und wenn sich jemand an der Frage oder dem Gegensatz von Blut und Konfession reibt – dann soll er das tun. Ja, und wenn jemand alles darin lesen kann, ist er wahrscheinlich ein Profi (lacht jetzt laut). Man will ja auch die Kritiker nicht langweilen.

Die jetzt unter anderem in der Buchpreisjury sitzen und Ihren Roman gegen fünf andere abwägen müssen.

Genau, das ist das Gute an diesem Preis, dass da Profis in der Jury sitzen und darüber urteilen müssen.

Hat die Shortlistnominierung für Sie etwas geändert in der Wahrnehmung?

Sicher. So eine Nominierung macht einen Roman sichtbarer, diese Sichtbarkeit hätte „Nichts Weißes“ sonst nicht bekommen. Was sich vor allem aber für mich geändert hat: Das Publikum hört anders zu, wenn ich lese. Das mag Einbildung sein, aber eine positive. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich mit dem Text, den ich gerade lese, das Publikum erst noch überzeugen muss. Es ist schon vorher auf meiner Seite, das ist das Neue und Überraschende an der jetzigen Situation.

Und wenn es für den Preis nicht reicht?

Man darf natürlich nicht in den Frankfurter Römer gehen und denken, dass man diesen Preis bekommt. Dann kommt man vielleicht als gebrochener Mensch wieder raus. Dieser Preis ist ein gutes, wirksames Instrument, auch für jene, für die es letztendlich nur zu Nominierungen gereicht hat. Als Schriftsteller muss man sich am Ende nur selbst fragen, ob man ein gutes Buch geschrieben hat.

Und, Ihr Urteil?

Fragen Sie doch mal meinen Lektor!

Das Gespräch führte Gerrit Bartels.

Ulf Erdmann Ziegler,

geboren 1959 in

Neumünster, lebt

in Frankfurt am Main.

Er studierte visuelle Kommunikation, Literaturwissenschaft und Psychologie, arbeitete als Kunstkritiker und ist seit seinem 2007 veröffentlichten Debütroman „Hamburger

Hochbahn“
freier Schriftsteller. Es folgten das Buch „Wilde Wiesen“, eine „Autogeografie“,

sowie der Essayband

„Der Gegenspieler

der Sonne“.

„Nichts Weißes“ (erschienen bei Suhrkamp, 259 S., 19, 95 €) ist Zieglers

zweiter Roman. Er

steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, der am heutigen Montag um 18 Uhr zum Auftakt der Buchmesse im Frankfurter Römer verliehen wird. Der Preis ist mit 25 000 Euro dotiert.

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