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Kultur: Umberto Eco im Interview: Warum lieben Sie das Lügen?

Umberto Eco, geboren am 5. Januar 1932 in Alessandria, ist nicht erst seit seinem Weltbestseller "Der Name der Rose" (1980) einer der bedeutendsten zeitgenössischen Intellektuellen.

Umberto Eco, geboren am 5. Januar 1932 in Alessandria, ist nicht erst seit seinem Weltbestseller "Der Name der Rose" (1980) einer der bedeutendsten zeitgenössischen Intellektuellen. Seine Romane, so kriminalistisch sie auch erzählt sind, stehen immer im direkten Zusammenhang mit seiner akademischen Tätigkeit: Begriffsbildend wurden seine kommunikationstheoretische Untersuchung "Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen" aus dem Jahr 1975. In diesem Jahr ist der vierte Roman des Professors in Bologna erschienen: "Baudolino". Mit ihm kehrt Eco ins Mittelalter des "Namens der Rose" zurück (vgl. Besprechung im Tagesspiegel vom 1. September. Heute abend liest Udo Samel aus "Baudolino" und spricht Christoph Stölzl mit Umberto Eco im Berliner Renaissancetheater - die Veranstaltung ist ausverkauft.

Ihr neuer Roman "Baudolino", der jetzt in Deutschland die Bestsellerlisten anführt, präsentiert einen Helden, der sein Leben lang Lügen erzählt und seinen erfundenen Geschichten nachzuspüren beginnt. Ist Lügen ein Akt der Weltaneignung?

Ich fand es sehr amüsant, über einen Lügner zu schreiben. Baudolino ist einer von der Sorte, dessen Lügen akzeptiert und unmittelbar umgesetzt werden, ein Lügner, der Geschichten produziert und sie schließlich selbst glaubt. Und wenn jemand an die eigenen Erfindungen glaubt, handelt es sich nicht mehr um Lügen, sondern um Utopien. In meinem Roman tue ich so, als habe sich Baudolino eine Botschaft des orientalisch-christlichen Priesterkönigs Johannes ausgedacht. Diesen Brief gibt es wirklich. Man weiß nicht, wer der Verfasser war, aber der Brief hat die Wirkung einer Utopie entfaltet. Denn von Marco Polo bis zu den portugiesischen Seefahrern der Renaissance haben sich alle in den Orient oder nach Asien aufgemacht, um das Reich des Priesterkönigs zu suchen. Sie fanden natürlich etwas völlig anderes, und genauso funktionieren Utopien. Ich erzähle zur Hälfte die Geschichte eines Schelms und zur Hälfte eine Geschichte darüber, wie Historie überhaupt entsteht.

Die Handlung setzt in Konstantinopel im Jahre 1204 ein. Baudolino rettet den Chronisten Niketa Choniates vor den brandschatzenden Kreuzfahrern. Während Konstantinopel in Flammen steht, erzählt Baudolino dem Chronisten seine Lebensgeschichte. Wollten Sie ihm eine Kontrastfigur, den um die Wahrheit bemühten Beobachter, gegenüberstellen?

Niketa hilft mir, den Leser fortwährend an Baudolino zweifeln zu lassen. Wenn nur Baudolino in erster Person oder wenn ich als allwissender Erzähler die Geschichte darböte, müsste der Leser sie für bare Münze nehmen. Da ich sie als einen Dialog inszeniere, ist der Leser gezwungen, immer wieder an der Wahrheit zu zweifeln. Allerdings bestimmen auch zufällige Entscheidungen die erzählerische Konstruktion eines Buches ganz ungemein. Ich wollte, dass sich Baudolino 1204 in Konstantinopel aufhielte, zum Zeitpunkt der Gründung Alessandrias.

Ihrer eigenen Geburtsstadt in Oberitalien.

Ja, da sollte Baudolino ein Erwachsener sein, also musste er in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts geboren werden. Was sollte ich mit dieser ganzen Zeit anfangen, zwischen Geburt und der Abfassung des Briefes des Priesterkönigs, dessen Entstehung man mehr oder weniger genau datieren kann? Ich habe mir also lauter Abenteuer ausgedacht, die sich in der Zwischenzeit abspielen, ich musste ihn seine Reise immer wieder aufschieben lassen.

Nicht nur der Weg, schon die Sehnsucht ist das Ziel der Reise.

Aufschub und Verzögerung sind wichtige Elemente, denn der Wert einer Utopie besteht genau darin, dass sie niemals verwirklicht wird. Wenn Utopien wahr werden, ist es meistens eine Tragödie. Wenn Sie zum Beispiel Utopia von Thomas Morus nehmen, der Jahrhunderte lang den Traum einer perfekten Republik gespeist hat, und dann analysieren, wie diese Stadt tatsächlich funktionieren sollte, ist das schlimmer als der Stalinismus. Morus hat damit lauter messianische Erwartungen geweckt, die Hoffnung auf eine bessere Welt, bis hin zu Marx und anderen. Die kommunistische Utopie ist Wirklichkeit geworden und hat eine ganze Reihe peinlicher Situationen geschaffen.

Etwas zu erfinden wie diesen Brief des Priesters, in dem von einem wundersamen Reich die Rede ist, scheint für Baudolino auch eine Vorbereitung auf das zu sein, was er dann wirklich erlebt.

Ich bin überzeugt davon, dass alle Entdeckungen, auch die wissenschaftlichen, am Anfang nichts anderes als großartige Erzählungen sind. Was nicht bedeutet, wie manche vermuten mögen, dass wissenschaftliche Entdeckungen, auch wenn es zunächst nur Geschichten sind, automatisch falsch sind, im Gegenteil. Ein Arzt, der Penizillin oder einen Impfstoff gegen Krebs erfindet, Einstein, der sich vorstellt, was Relativität sein könnte - zunächst sind es Geschichten über eine mögliche Welt. Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist es dann, Schritt für Schritt diese Erzählungen zu verifizieren.

"Baudolino" spielt in Zeiten politischer Instabilität, das mittelalterliche Italien ist von Kriegen der Städte untereinander zerrüttet, in Konstantinopel ist das Machtgefüge ins Wanken geraten. Was hat es mit der Parallelisierung der Krisenzeiten auf sich?

Welche Zeit ist nicht durch politische Unruhen geprägt? Gerade jetzt! Mich hat bei der Vorbereitung vor allem eine Sache umgetrieben. In Italien lernt man in der Schule, dass es im 12. Jahrhundert auf der einen Seite die Städte und Reiche gab, die für ihre Unabhängigkeit und Freiheit kämpften, und auf der anderen Seite den bösen Friedrich Barbarossa. Für mich war es sehr schön zu entdecken, dass Barbarossa eigentlich ein netter Typ ist, er ist mir während der Arbeit ans Herz gewachsen. Außerdem fand ich heraus, dass die italienischen Städte keineswegs nur gegen Barbarossa gekämpft haben, sondern vor allem gegeneinander. Sie benutzten Barbarossa, um sich gegenseitig eins auszuwischen. Diese Sichtweise der Geschichte, die für Historiker überhaupt nicht neu sein mag, war für mich eine Entdeckung. Auch gerade in Bezug auf die aktuelle Rhetorik hier in Italien mit der Lega Nord war das wichtig. Es gibt diesen Mythos der Lombardischen Liga, obwohl diese Liga in Wirklichkeit völlig instabil war, eine eher zwiespältige Angelegenheit, denn die Mailänder hatten vor allem einen Wunsch: die Leute aus Lodi zu vernichten, und umgekehrt war es genauso. Sie brauchten den Kaiser sogar. Steuern wollten sie ihm nicht zahlen, aber sie wollten ihn auch nicht vernichten, denn er bot ihnen das Gegenbild eines Staates. Mir ging es darum, diese Legende zu zerstören.

Eine besondere Rolle spielen in Ihrem Roman die Gegenstände. Die alte Holztrinkschale seines leiblichen Vaters deklariert Baudolino eines Tages als den heiligen Gral, er wird dann geraubt, verschwindet, kostet Menschenleben. Später stellen Baudolino und seine Helden selbst Reliquien her, um Geld zu verdienen, vor allem aber gewinnen die Legenden an Bedeutung, die sich um diese Gegenstände herausbilden.

Es gibt in meinem Roman ja zwei Kategorien von Objekten. Das eine sind die Reliquien. Wir wissen, dass dieselben Reliquien sich an zehntausend verschiedenen Orten befinden, und in der Tat beeinflussen Reliquien den Gang der Geschichte nicht sonderlich. Die andere Gruppe sind Objekte wie der Gral, der bis in unsere Zeit hinein ein Mythos ist, über den Bücher verfasst werden, und zwar genau aus dem Grund, weil er eben nicht existiert. Reliquien sind etwas wert, weil sie ein paar Gläubige anziehen. Der Gral aber bewegt wie alle Utopien die Geschichte. Deshalb muss er am Ende des Romans auch wieder verschwinden.

Als Professor für Semiotik beschäftigen Sie sich seit den 60er Jahren mit Zeichenprozessen, und Sie haben auch immer Alltagsphänomene erforscht, von Bestsellern bis hin zu Fernsehsendungen. Wohin kann sich die Semiotik im neuen Jahrtausend entwickeln?

Ich denke, für die Semiotik, die in enger Verbindung mit der Linguistik in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstand, gibt es heute vor allem zwei Wege. Auf der einen Seite kommt neuerdings wieder das Gehirn ins Spiel, über das man lange Zeit nicht reden konnte und wollte. Es entsteht also eine Verknüpfung zwischen den kognitiven Wissenschaften, der Hirnforschung und der Frage nach der Sprache. Die andere Richtung ist die angewandte Semiotik. Die angewandte Semiotik, die Phänomene des Alltagslebens untersucht, ist allerdings in der Krise, weil inzwischen einfach alles semiotisiert wird. Als Roland Barthes den Citroën oder das Catchen analysierte, gab es Bereiche des Lebens, die inszeniert wurden und Bereiche, die nicht inszeniert wurden. Eine Krebserkrankung wurde nicht inszeniert. Heute ist das anders, heute geht der Kranke ins Fernsehen und der Wissenschaftler, der ein Medikament entdeckt, ist sofort eine Figur der Massenmedien. Angesichts dieser umfassenden Hypersemiotisierung stellt sich die Frage, wie man etwas semiotisch analysieren kann, ohne selbst eine Figur der ganzen Angelegenheit zu werden. Geht es noch so, wie Barthes und ich unsere Analysen anlegten? Also, man schließt sich in ein Zimmer ein, schaltet den Fernseher aus und denkt darüber nach, was man im Fernsehen gesehen hat. Heute wird auch das, was sich in dem Zimmer abspielt, Teil der Inszenierung, Stichwort big brother.

Wie sieht in einer von Massenmedien infiltrierten Welt die Position der Universität aus, und wie sehen Sie Ihre Rolle im Italien Berlusconis?

Die Universität war immer ein autonomer Bereich. Nicht einmal der Faschismus hat sie zum Verstummen gebracht. Wenn die Universitäten es schaffen, Fragen aufzuwerfen, die in den Medien noch nicht verhandelt wurden, dann werden sie ihre Funktion behalten, wenn sie ihnen nur hinterher hechten, werden sie sie verlieren. Ich sprach mit einem Kollegen über das Problem, dass in vielen Fachbereichen der Kommunikationswissenschaften für Fernseh-Seminare große Persönlichkeiten des Fernsehens engagiert werden, etwa der Talkmaster Maurizio Costanzo. Das sind sehr gute Leute, sie kennen die Funktionsweise von innen heraus. Aber wenn man das Fernsehen begreifen will, dann reicht es nicht, über die inneren Mechanismen Bescheid zu wissen, man muss aus der Distanz heraus das analysieren können, was auf dem Bildschirm passiert. Mein Motto lautet, auf den Kardiologen-Kongressen dürfen keine Herzkranken zu Wort kommen. Die Herzkranken gehören auf den Operationstisch, sie müssen untersucht werden! Die Chance der Universität ist eben gerade die, das Objekt seiner Untersuchung aus der Distanz zu betrachten. Wenn sich die Forschungswelt diesen Abstand erhalten kann, wird sie dieser Konfusion der totalen Hyper-Inszenierung die Stirn bieten können, wenn nicht, na ja, dann wird sie scheitern.

Ihr neuer Roman \"Baudolino\"[der jetzt in Deutschl]

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