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Umstrittene Kunst: Synagoge wird zur "Gaskammer"

Seit elf Uhr leitet der Künstler Santiago Sierre giftige Abgase in eine Synagoge bei Köln. Er wolle gegen die "Banalisierung der Erinnerung" protestieren. Der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisiert die Kunstaktion scharf.

Pulheim - Eine Synagoge bei Köln ist am Sonntag im Rahmen einer Kunstaktion zur «Gaskammer» geworden. Der international bekannte Künstler Santiago Sierra leitet aus den Auspuffrohren von sechs Autos die hochgiftigen Abgase in das frühere jüdische Bethaus von Pulheim-Stommeln. Mit seiner Arbeit wolle er «gegen die Banalisierung der Erinnerung an den Holocaust» angehen, erklärte der 39-jährige Sierra am Sonntag in einer schriftlichen Stellungnahme zu Beginn seines Projektes «245 Kubikmeter».

Der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisierte die Kunstaktion scharf. Das Einleiten von Auspuffgasen in den ehemaligen jüdischen Betraum sei «eine Beleidigung der Opfer», sagte der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer, am Sonntag in Berlin. Die «niveaulose» Aktion «geht über die Grenzen dessen, was angemessen ist, weit hinaus».

Kramer frage sich, warum die Opfer und nicht die Täter provoziert würden. Zweifelsohne müssten neue Wege der Erinnerung an den NS-Judenmord gefunden werden: «Aber wenn das die neue Form der Erinnerung ist, sollen wir dann Auschwitz wiedereröffnen und an die Besucher Gasmasken verteilen, um ein authentisches Erfahrungserlebnis zu bekommen?», fragte Kramer.

Schon unmittelbar nach Beginn der Aktion, der der Künstler bewusst fern geblieben war, bildete sich eine Warteschlange vor der ehemaligen Synagoge. Besucher der Kunstaktion können mit einer Atemschutzmaske und in Begleitung eines Feuerwehrmannes einzeln und für wenige Minuten den Synagogenraum mit seiner lebensgefährlichen Konzentration an Kohlenmonoxid betreten. Die Aktion soll bis 17.00 Uhr dauern und an jedem Sonntag - außer Ostersonntag (16.4.) - bis 30. April erneut stattfinden.

Der Bürgermeister der rheinischen Kleinstadt, Karl August Morisse, mag nicht glauben, «dass sich jemand beleidigt fühlt, weil die Sinnhaftigkeit des Werks offenkundig ist». Er biete allen Kritikern die Diskussion über das drastische Kunstwerk in seiner Stadt an.

Mit zahlreichen drastischen Aktionen, die sich gegen Rassismus und Ausbeutung wandten, hat sich der aus Madrid stammende und in Mexico City lebende Künstler bereits in den vergangenen Jahren in der Kunstszene einen Namen gemacht. So tätowierte er jungen Arbeitslosen eine lange Linie auf den Rücken, färbte die Haare von Afrikanern blond, um sie zu «Europäern» zu machen oder mauerte auf der Biennale von Venedig den spanischen Pavillon zu, den nur Spanier nach Vorlage ihres Passes betreten durften.

Auch mit seinem Werk in der seit 80 Jahren nicht mehr als Bethaus genutzten Synagoge wolle er zum Nachdenken über «das chronische und instrumentalisierte Schuldgefühl» auffordern. Gleichzeitig solle es eine Arbeit sein «über den industrialisierten und institutionalisierten Tod, von dem die europäischen Völker auf der Welt lebten und immer noch leben», erklärt Sierra, der dem Beginn seiner Aktion fern geblieben ist.

Die ehemalige Synagoge von Stommeln, die das NS-Regime unbeschädigt als Stall überstanden hat, ist seit 1991 alljährlich Schauplatz hochkarätiger Kunst-Ereignisse. Bedeutende Künstler wie Richard Serra, Eduardo Chillida, Carl Andre, Rosemarie Trockel oder Sol LeWitt haben sich dabei mit dem Gedenkort auseinander gesetzt. (tso/dpa)

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