zum Hauptinhalt

Ungarische Literatur: Engel des Chaos

"Strichcode": Die bösen Erzählungen der 1967 geborenen ungarischen Schriftstellerin Krisztina Tóth sind eine Entdeckung.

Es gibt wohl kein treffenderes Bild des menschlichen Alltags als die Qualen des Sisyphos, der in der Erschöpfungssekunde, wenn der Stein zurück in den Abgrund rollt, innehält und von Neuem entschlossen hinabsteigt. Camus hat Sisyphos, im Angesicht des Absurden, einen freien Menschen genannt. Woran denkt er in jener Schicksalssekunde? Was fühlt er? Man kann die 15 Begebenheiten in Krisztina Tóths Prosadebüt „Strichcode“ als versuchte Antworten lesen.

Die Geschichten der 1967 geborenen Ungarin handeln von leichten und glücklichen Momenten, die eingebettet sind in Wut, Verzweiflung und Müdigkeit – und doch erfüllt von souveränem Selbstbewusstsein. An der konzentrierten, durchgearbeiteten Sprache erkennt man, dass Tóth von Hause aus Lyrikerin ist. Unverkennbar autobiografisch geprägt, erinnern ihre Erzählungen in ihrer Dynamik an Dezsö Kostolányi, den Meister verstörender Begebenheiten, und in ihrer Härte an die rücksichtslosen Seelenprofile von Magda Szabó. Doch das Eigene bei Tóth sind die überraschenden Wechsel der Satzrhythmen und Bildebenen. Sie erzeugen ein Klima zwischen Schmerz und Selbstironie, Trauer und Spott .

Tóths Heldin ist wie sie selbst während der späten Kádár-Zeit aufgewachsen, hat in Paris Romanistik studiert und nach der Wende die Welt erkundet. Von Einsamkeit und Überlebenswillen handeln die Geschichten, von der Anstrengung, unrealistische Wünsche loszuwerden. Das gelingt der Erzählerin erst in Japan, als sie nach demütigenden Zollschikanen, in denen sie sich heimisch fühlt und dafür zugleich hasst, ihre Wunschzettel in Shinto-Schreinen entsorgt.

In beeindruckendem Tempo erzählt „Take five“ von der Verlorenheit in Paris, als sich die Erzählerin monatelang nur von Dosenmais ernährt, auf den Schimmelspuren der arabischen Vormieterin zentimeterweise ihr winziges Dachzimmer erkundet und voller Wut mit dem rüpelhaften, starke Ausdünstungen verbreitenden Nachbarn eine heftige Affäre beginnt. In so brutalen wie träumerischen Bildern schildert sie Ekel und Begehren. Vorsichtig tastet sie sich durch ihre ungarischen Erinnerungen, und schildert mit verletzlicher Offenheit ihren Alltag: Selbst die dümmsten Passbeamten muss sie mit heiligem Ernst betrachten.

Nicht um einzelne Begebenheiten kreisen die Texte, sondern um ein pulsierendes Netz von Schmerzpunkten. Tief hatte die Verrohung unter Kádár in jede Familie eingegriffen. „Blutlinie“ heißt der Untertitel einer Erzählung über ein Familientrauma : Die kraterartigen Narben auf Rücken und Brust des Vaters, die ihr als Kind wie eine geheimnisvolle Landkarte erschienen, waren nicht die Folgen eines Autounfalls, sondern eines Fluchtversuchs über die Grenze. An der inneren Erstarrung des Vaters, unter der sie als Kind litt, kann sie die Angst der Familie ermessen.

Das enge Leben im Plattenbau ließ die innere Not der Menschen in gedankenloser Grausamkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern explodieren, die Legenden der Siedlung erzählen von Verstümmelungen und tödlichen Unfällen. Der Lieblingsspielplatz der Kinder war ein hochgiftiger Ort: ein Berg aus Hochofenschlacke, magisch glänzend, aus dessen Steinen die Erzählerin Perlen und Armreifen schnitzte („Schwarzer Schneemann“). Fast liebevoll zeichnet sie den Weg der Gifte nach, von den rattenverseuchten Kellerverliesen und den Lungen der Menschen bis „zu den Schäfchenwolken und noch höher – dorthin, wo laut Oma Gere das ewige Reich des Himmels ist“.

Ein wütendes Ich spricht hier, ein Mensch in der Revolte, der weder an die Veränderbarkeit der Welt noch an das Schicksal glaubt: Er will einfach nur den Strichcode der Welt lesen, der aus Farben und Gerüchen besteht, aus merkwürdigen Geräuschen und Koordinatensystemen aller Art. Abgebrüht und dünnhäutig zugleich erzählt Tóth von den Wochenenden im vermüllten Haus der Großmutter, die als Lumpensammlerin unterwegs war und Ameisenstraßen erforschte. In knappen, schmerzhaft körperlichen Sätzen, die an Agota Kristof erinnern, beschreibt sie aus der Sicht des Kindes die Gefühlskälte, zu der sie sich als Enkelin zwang.

In leidenschaftlichen Sätzen katapultieren die Geschichten den Leser durch alle Gefühlsebenen, von tiefer Anteilnahme über Schrecken bis zu derbem erotischem Spaß. Zu Recht nennt Péter Nádas deshalb die Autorin einen „brutalen Engel des ewigen Durcheinanders“: Gerade nachts sperrt er die Augen weit auf.

Krisztina Tóth: Strichcode. Fünfzehn erzählte Begebenheiten. Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner. Nachwort von

Péter Nádas. Berlin Verlag, Berlin 2011. 206 Seiten, 19,90 €.

Nicole Henneberg

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false