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Ihre Mutter ist Trinkerin und der Vater ein Taugenichts. Aber es gibt Augenblicke, in denen das nicht zählt - etwa wenn Zita (Éva Papp) mit ihrer großen Cousine Anna unterwegs ist.

©  peripher

Ungarisches Roma-Drama "Just The Wind": Menschenjagd als Spielfilmthema

Unter der rechten Regierung in Ungarn ist die Gewalt gegen Roma zum Alltag geworden. Bence Fliegaufs vielgelobter Spielfilm „Just the Wind“ macht das angsterfüllte Leben der Minderheit bedrängend fühlbar.

Was ist mit dem Auto da im Schritttempo neben dem Feldweg? Was reden die Kollegen beim Unkrautjäten am Straßenrand? Warum verdächtigt der Hausmeister ausgerechnet Anna nach dem Diebstahl? Der zwölfjährige Rio (Lajos Sárkány), die Mutter Mari (Katalin Toldi), die ältere Schwester – Anna (Gyöngyi Lendvai) – , sie sind Freiwild. Sie wohnen am Waldrand, an der Peripherie einer Kleinstadt in Ungarn, sie sind Roma. Die Kamera sitzt ihnen im Nacken, ist eine von ihnen oder beides, Täter und Opfer. Nervös, von leiser Panik getrieben, dringt sie ein in den Schutzraum des Privaten, kennt keine Distanz. Nie kann sie sich in Sicherheit wiegen, sie versteckt sich hinter den Rücken der drei, verfolgt das Geschehen hautnah. Eine Jägerin, eine Gejagte in „Just the Wind“ – dem Drama des Ungarn Bence Fliegauf, das 2012 bei der Berlinale einen Silbernen Bären gewann.

Rio, Mari und Anna schwitzen in der Sommerhitze, sie gehen schnell, alles andere wäre zu gefährlich. Sie drehen sich um, bei jedem knackenden Ast, wenn der Wind in die Bäume fährt. Sie ducken sich weg, wenn wieder die rassistischen Sprüche kommen, sie schlafen auf einer Matratze, eng aneinander, mit verwinkelten Beinen, als würde das helfen. Die Nachbarsfamilien wurden bei nächtlichen Überfällen ermordet, so beginnt der Film mit einer Beerdigung samt Gipsy-Musik, und vorne im Bild türmt sich der Müll.

Im Wald irrt ein quiekendes Schwein umher, es hat die Pogrome überlebt. Die Polizei kaut Sonnenblumenkerne, lässt die Schalen am Tatort zurück und lästert über die „Zigeunerkinder“. Sie hätten vor allem einen Fehler, sagen die Hüter von Recht und Ordnung, „sie werden erwachsen“. Rio, der hagere Junge, kauert in der Nähe und hört ihnen zu. Er geht nicht zur Schule, klaubt stattdessen in den Häusern der Toten Überlebensreste zusammen, um sie in seinem Verlies im Wald zu bunkern. Kleine nützliche Dinge, für jeden etwas, auch für Anna und die Mutter. Ein gutes Versteck, vielleicht ist es eines Tages die Rettung. Der Vater, weit weg in Toronto, will sie nachholen, aber es fehlt das Geld für die Reise, von den Schulden zu schweigen. Passt auf euch auf, mahnt er beim Skypen mit der Tochter, die im Internetcafé „Zigeunermorde“ googelt.

Ungarn heute, unter der rechtsgerichteten Regierung von Viktor Orbán. Gewalt gegen Roma, Schikanen, Rassismus, Rechtsextremismus – Akte der Barbarei mitten im zivilisierten Europa. Die Gewaltserie in den Jahren 2008 und 2009 forderte sechs Menschenleben, es gab Dutzende Schwerverletzte. Man las es in der Zeitung und blätterte weiter. Bence Fliegauf, Jahrgang 1974, hält dagegen, mit einer fiktiven Geschichte, aber einer mit unerbittlichem Realitätssinn und poetischer Intensität. Ein stiller Film, grausam still, dass es einem den Atem verschlägt, ein Tag im Leben von Mari und den Kindern, vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang. Vielleicht ist es ihr letzter Tag in diesem „Wendekreis der Angst“, so nannte es die Jury des Friedensfilmpreises, als sie „Just the Wind“ ebenfalls auf der Berlinale auszeichnete.

Maris Frühstück in der elenden Behausung, Kaffeepulver, kaltes Wasser, Brotbrocken. Der Busfahrer, der erst an ihr vorbeifährt, bevor er bremst. Die Schikanen des Hausmeisters, wenn Mari in der Schule putzt. Annas Anstrengung, sich selber Englisch beizubringen. Ihr Versuch, unsichtbar zu bleiben, als die Klassenkameradin vergewaltigt wird, bloß nicht einschreiten, sie könnte die Nächste sein. Der sieche Großvater, im Halbdunkel auf dem Sofa. Der Junge von der Roma-Bürgerwehr, der Anna ermahnt, ihr Handy eingeschaltet zu lassen. Und die kleine Cousine Zita, deren Mutter Trinkerin ist und der Vater ein Taugenichts. Anna geht mit Zita an den See, Baden, Haarewaschen, einen Blumenkranz winden, ein flüchtiges Glück, lichtdurchflutet – wenn da nicht die gnadenlose Kamera wäre.

Momentaufnahmen aus dem Leben schutzloser Menschen, man hält es kaum aus vor Angst. Bence Fliegauf beschönigt nichts, mancher Roma im Film schuftet sich kaputt, mancher ist nur eine kaputte Existenz. Aber man sieht die Ursachen der Zerstörtheit, kann die Pogromstimmung mit Händen greifen. „Es gibt keinen politischen Film in Ungarn mehr, kein sozial engagiertes Kino“, konstatierte der Regisseur unlängst in einem Interview, selbstkritisch gegenüber der eigenen Zunft. Er sorgt sich um sein Land, darum, dass sich so wenige wehren gegen den alltäglichen Rassismus, gegen die Beschneidung der Grundrechte, der Demokratie. Als das Europaparlament Anfang Juli bei Orbán die Einhaltung der Menschenrechte anmahnte und Sanktionen androhte, konterte dessen Fidesz-Partei und verbat sich jede Einmischung seitens der europäischen Nachbarn.

Am Ende von „Just the Wind“ bricht eine große Finsternis aus, eine Nacht, die nichts Menschliches kennt. Und unsereins, kaum eineinhalb Flugstunden von Ungarn entfernt, will es lieber nicht wissen, nicht sehen.

OmU: fsk, Hackesche Höfe, Krokodil

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