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Land an Krücken. 1989, als der Eiserne Vorhang fiel, fühlte sich Ungarn im Aufwind. Inzwischen schlagen sich viele Menschen – wie diese greise Bettlerin auf der Freiheitsbrücke in Budapest – unterhalb der Armutsgrenze durch.

© Mark Henley/PANOS/VISUM

Ungarn auf dem Marsch nach rechts: Über das Elend hinwegsehen

Nach dem Ende des Realsozialismus erlebte Ungarn einen Höhenflug, dann folgte der Absturz. Jetzt wird das Land vom autoritären Premier Viktor Orbán regiert. Seine Administration vergisst die vier Millionen Armen. Hat Ungarn noch eine Chance auf so etwas wie Zukunft?

In unserer Nachbarschaft wohnt ein Journalist. „Journalist“ ist übertrieben. „Wohnt“ ist übertrieben. Er war jahrzehntelang Journalist, jetzt ist er es nicht mehr. Seine „Wohnung“ sind einige Decken und dicke Kleidung. Er ist letzten Winter vor unser Haus gezogen, dorthin, wo aus der Lüftung des Lebensmittelgeschäfts Wärme strömt. Hier hat er den Winter verbracht. Zum Glück war es ein milder Winter. Neben ihm steht eine Schüssel, in die man Geld werfen kann. Daneben ein Stück Pappe mit zwei Zeilen des Dichters László Nagy: „Mich beschämt zu bitten um Gabe, / Geben Sie, auch wenn ich nicht frage.“

In unserer Gegend gibt es verhältnismäßig wenig Obdachlose, dafür viele Menschen, die László Nagy gelesen haben. Unter anderen mich. Deshalb schloss ich mit dem Journalisten Bekanntschaft. Diese ging nicht so weit, dass ich ihn zu uns eingeladen und ihm ein Bett angeboten hätte, aber ich erfuhr zum Beispiel, dass er in den 90er Jahren als Blutspender durch eine verseuchte Spritze mit Hepatitis C infiziert wurde. Dass er obdachlos wurde, steht damit nicht in unmittelbarem Zusammenhang, anders als die Tatsache, dass er jetzt, mit einem beidseitigen Leistenbruch keinen Chirurgen findet, der ihn operieren will.

Apokalyptische Zukunftsbilder nicht nur von Ungarn

Auch heute früh lief ich an ihm vorbei und grüßte ihn schuldbewusst. Er blickte nicht auf. Er las oder schlief. Die Brille auf der Nasenspitze, die Lider gesenkt. Da ja auch ich gesenkten Blickes an ihm vorbeihuschte, sah ich nicht, was er las, hatte aber den Eindruck, in seinem Schoß liege die Wochenzeitschrift „Élet és Irodalom“ (Leben und Literatur). Wahrscheinlich hatte ihm jemand die Ausgabe der letzten Woche überlassen.

Wenn es so war, konnte er den Artikel von Gáspár Miklós Tamás lesen, einem der wichtigsten linken Denker und klügsten Menschen Ungarns, der mit folgenden Worten endet: „Es ist ein wahres Wunder, dass die armen Roma und Nicht-Roma, die als menschlicher Abfall betrachtet werden, noch nicht unsere Städte und Dörfer angezündet haben … Es ist nicht ausgeschlossen, dass das System in einem Blutbad und in Flammen untergehen wird, was ich weder mir noch jemand anderem wünsche. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das System, durch sein Fortbestehen oder durch seinen Zusammenbruch, Ungarn – und die Region – in eine Katastrophe stürzt.“

Gáspár Miklós Tamás hat nicht nur vom heutigen Ungarn ein apokalyptisches Zukunftsbild. Er sagt im selben Artikel, dass die Tage der klassischen Rechtsgleichheit überall auf der Welt gezählt sind: „Die Wiederherstellung der Statusungleichheit – was bisher nur vom Nazismus und Vertretern verwandter Ideologien (in Zeiten der Diktatur und des Krieges) versucht wurde – gehört heute zu den Mainstream-Bestrebungen der bürgerlichen Demokratien.“

In „Élet és Irodalom“ gibt es auch Erfreulicheres zu lesen: ein Interview mit Árpád Kun etwa, dessen Roman „Glücklicher Norden“ vor kurzem den bedeutendsten nicht staatlichen Literaturpreis erhielt. Eine Geschichte über einen Afrikaner, der in Norwegen eine neue Heimat findet. Über Kun erfährt man in dem Interview, dass er und seine Frau mit ihren vier Kindern in Norwegen leben, wohin sie 2006 zogen, da beide mit ihren geisteswissenschaftlichen Diplomen in Ungarn keine entsprechende Arbeit gefunden hatten. In Norwegen fanden sie diese natürlich auch nicht. Doch dort können sie zumindest von jeder Art von Arbeit leben. Auf menschenwürdige Weise.

Wo gibt es keine Armen?

Ihre Geschichte ist eine andere als die der armen Ungarn. Es ist die der Auswanderer. Keiner weiß genau, wie viele Menschen im vergangenen Jahrzehnt Ungarn verlassen haben, um vor allem nach Westeuropa zu ziehen, aber man schätzt sie auf ungefähr eine halbe Million. Unter ihnen Tausende von Ärzten. Aber die meisten – nicht wenige haben einen Hochschulabschluss – passen auf Kinder auf, arbeiten als Haushaltshilfe, putzen oder spülen in einer Kneipe. Árpád Kun pflegt alte Menschen.

Er ist übrigens ein alter Freund von mir. Als er nach Budapest kam, um den Preis entgegenzunehmen, wohnte er bei uns. Er schlief in dem Bett, das ich dem obdachlosen Journalisten anbieten würde, wenn ich genügend Mut und Nächstenliebe aufbringen würde. Dem ist jedoch nicht so. Was ich aufbringen kann, sind Ohnmacht und Scham.

Wo gibt es keine Armen? Keine Menschen, die zum Auswandern gezwungen sind? Oder arme Einwanderer? Wo gibt es keine Obdachlosen? Sie gibt es auch in einem gut funktionierenden Land. Auch dort schämt man sich dafür. Ich glaube jedoch, dass es in einem gut funktionierenden Land ein starkes, gemeinsames Bild von der Zukunft gibt. In Ungarn gibt es das zurzeit nicht. Die Situation erinnert an einen Börsenkrach: Wenn die Nachricht in Umlauf gerät, dass eine Bank unsicher geworden ist, wird sie von den Anlegern gestürmt, und jeder will sein Geld bekommen. Die Bank bricht zusammen.

Eine Million Roma: Keiner weiß, was mit ihnen geschehen wird

Wenn sich in einem Land die Nachricht verbreitet, dass es keine Zukunft hat, wird es von seinen Bewohnern gestürmt, alle wollen ihre persönliche kleine Zukunft. Und das Land kann nicht zahlen. Die Menschen verfallen in Panik, und es kommt zur Massenflucht. Oder man bleibt und es kommt zu Gerangel, Überlebenskampf, Hass, Revolution. In Ungarn gibt es keine Revolution, und es wird auch keine geben, denn wer hier keinen Platz findet, der kann ja gehen.

Ungarn ist heute kein funktionierendes Land. Niemand weiß, was mit den vier Millionen Armen geschehen wird. Mit der einen Millionen Roma unter ihnen. Was wird mit den Auswanderern? Weshalb sollten sie zurückkehren? Ich weiß auch nicht, was ich meinen drei erwachsenen Kindern sagen soll, wenn sie endgültig das Land verlassen wollen.

In Ungarn gibt es seit Jahrzehnten einen politischen Religionskrieg zwischen den Menschen, die sich der linken beziehungsweise rechten Seite des politischen Spektrums zugehörig fühlen. Beide Seiten kämpfen für den wahren Glauben und gegen das Böse. Offenbar wurde dieser Kampf im Frühjahr 2014 für lange Zeit entschieden. Die konservative Partei Fidesz erhielt bei den Wahlen wie schon 2010 eine Zweidrittelmehrheit.

Die linke Opposition versteht das nicht. Sie beschimpft die Wähler als „Schafe“ und „Faschisten“. Sagt, dass man dieses „faschistische Land“ verlassen muss. Wenigstens die Kinder sollen gehen. Denn hier gibt es keine Zukunft für sie, nur Raum für die Rechte. Dabei hätte die ungarische Linke nach 2010 vier Jahre gehabt, Verantwortung zu übernehmen und endlich ein positives, realistisches Zukunftsbild zu erschaffen. Stattdessen wiederholte sie, was sie im Lauf der vergangenen Jahre ständig sagte: Ja, natürlich haben auch wir Fehler, aber hauptverantwortlich ist die Rechte. Ja, wir wissen ja selbst, dass wir gestohlen, betrogen und zugesehen haben, wie die Industrie zusammenbrach, dass wir keine Pläne für den Kampf gegen die Armut hatten und für die Roma keine einzige ehrliche Geste übrig. Ja, all das kann man uns anlasten – aber wenigstens sind wir keine Faschisten.

Die ungarische Linke hat kein Bild von der Zukunft, weil es dafür zu spät ist. Für sie ist es immer gerade zu spät. Jetzt sind die Faschisten da. Jetzt sind sie in einer Zwangslage. Jetzt hat ein anständiger Mensch keine andere Wahl mehr, als sich auf die Seite der Linken zu schlagen. In den letzten 25 Jahren war es immer zu spät, weil die Faschisten da waren, 1992, 1998 und 2002. 2006 waren sie dann wirklich da. Die Rechtsextremen haben bei den Wahlen 20 Prozent erreicht.

Im Gegensatz zur linken Opposition verfügt die rechte Regierung über ein Bild von der Zukunft. Der Haken ist nur, dass es für fünf Millionen Menschen reicht – in einem Land mit zehn Millionen Einwohnern. Die rechte Regierung ist nicht faschistisch. Sie ist nur stark. Unheimlich stark. Sie baut eine neue, eigene Mittelschicht und verspricht deren Angehörigen Ordnung und Wohlstand. Sie verhilft ihnen zur Selbstachtung, gibt ihnen Kraft, eine Ideologie, von der sie sagt, sie sei christlich-konservativ, und verhindert den Zugang zu Gegenmeinungen: Sie versetzt die TV- und Radiosender in wirtschaftliche Abhängigkeit und versucht, Störungen bei Internetportalen zu verursachen. Sie kontrolliert alle finanziellen Quellen und bestimmt über die Verteilung der Gelder.

1989 war es wunderbar, ein Ungar zu sein

So erschafft sie eine Kette feudaler Art. Alle und alles sollen in Abhängigkeit geraten: Privatpersonen und Beamte, Chefs und Angestellte, Studenten und Universitäten, Künstler und die Kunst. Die rechte Regierung unterstützt eine vorwiegend mediokre, beschränkte und frustrierte Kultur. Wer sich nicht in Abhängigkeit begeben will, der kann gerne das Land verlassen. Der insolvente Kleinunternehmer wie die multinationale Firma, der die Steuererhöhungen nicht gefallen. Sollen sie doch gehen, was fällt, das soll man stoßen. Sie zuckt grinsend die Schultern, wenn die linken Wähler ihre Kinder ins Ausland schicken: Umso besser, so bleibt mehr Platz für unsere Kinder!

Die Linke hat recht, sich dieser rechten Regierung entgegenzustellen. Schließlich hat die Linke sowieso fast immer recht. Denn so ist sie, die Linke. Sie wurde erfunden, um recht zu haben. Weil sie immer behauptet, auf der Seite der Armen und Unterdrückten zu stehen. Nur konkrete Pläne hat sie nicht.

Seit 2010 gibt es in Ungarn eine rechte Regierung. Für die verhängnisvolle Situation sind allerdings alle Regierungen verantwortlich, die seit dem Systemwechsel an der Macht waren. Auch die zwischen 1990 und 2010. Und nicht nur die Regierungen. Auch ich. Trotzdem würde ich meinen Kindern am liebsten sagen, sie sollten hierbleiben, weil ich weiß, dass dieses Land ein guter und wichtiger Platz ist. Das weiß ich, weil ich auch diese Seite von Ungarn kennengelernt habe.

Ich gehöre einer glücklichen Generation an. Dabei wurde ich in einer Diktatur geboren und habe bis zu meinem 28. Lebensjahr darin gelebt. Sie wurde jedoch zunehmend schwächer, so dass ich während meines Studiums in den achtziger Jahren fast frei leben konnte. Ich hatte Gelegenheit zu sehen, wie ein totalitäres System funktioniert und wie es zusammenbricht. Meine Generation konnte „der Kommunismus“ nicht mehr ruinieren. Wir lernten ihn zu fürchten, aber auch, über ihn zu lachen. Und wir lernten, auf die eigene Heimat stolz zu sein.

1989 war es wunderbar, ein Ungar zu sein. „Wir Ungarn“ waren gemeinsam mit den Polen die ersten im Abbau der Diktatur, „wir Ungarn“ haben den Eisernen Vorhang durchschnitten, ja sogar die rumänische Revolution wurde im Dezember 1989 vom Widerstand der ungarischen reformierten Gemeinde in Temeswar ausgelöst. Und nach 1989 fühlte es sich gut an zu wissen, dass Ungarn der Europäischen Union beitreten und die Unterdrückung von Millionen Ungarn in den Nachbarländer ein Ende haben würde. Ungefähr das war es, was meine Generation erlebte. Wir hatten ein Bild von der Zukunft.

Unsere Kinder wurden nach dem Systemwechsel geboren. Sie bekamen keine sowjetischen Soldaten zu sehen, trugen keine roten Halstücher, ihnen erzählte niemand etwas von einem Atomkrieg. Dafür bekamen sie eine Armut zu sehen, wie ich sie nie gesehen hatte. Hungernde, Arbeitslose, Bettler. Sie lernten keine Zensur, Selbstzensur kennen, sahen nie eine LPG, dafür von Unkraut überwucherte Felder, in den Ruin getriebene Fabriken. Und unsere Kinder erlebten den 1. Mai 2004, als wir der Europäischen Union beitraten. (Es war ein schöner Frühlingstag, wir machten einen Ausflug in den Zoo.) Und dann sahen sie ihre zunehmend enttäuschten Eltern: uns. Aber vielleicht reicht es, wenn sie bei mir und meiner Generation nicht nur Panik und schlechtes Gewissen sehen. Unsere Aufgabe ist es, ein Bild der Zukunft für uns selbst zu finden und niemanden auf der Straße zu lassen, wenn der nächste Winter nicht so mild wird.

István Kemény, 1961 in Budapest geboren, lebt als Schriftsteller ebendort. Seinen Text hat Timea Tankó aus dem Ungarischen übersetzt – wie auch Keménys zeitgeschichtlichen Roman „Liebe Unbekannte“, der 2013 im Wiener Braumüller Verlag erschienen ist.

István Kemény

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