zum Hauptinhalt
Ein Sehtest? Nein, ein Wahrnehmungs- und Erinnerungstest!

© Monika Rittershaus

Ungewohnte Klänge im Boulez Saal: So sprechen die Türme zu Babel

Auch im Pierre Boulez Saal können derzeit keine Konzerte stattfinden. Dafür ist dort jetzt Stephan von Huenes „Lexichaos“-Klanginstallation zu erleben.

Man hat noch keinen Ton gehört, wenn man durch die Tür kommt. Doch schon der erste Blick in die Ausstellung alarmiert alle Sinne. Man ahnt es sofort: Diese Raumskulpturen sind wie für einander geschaffen – das beschwipst-geschwungene Oval von Frank Gehrys Konzertsaal umarmt die wispernden, raunenden Wolkenkratzer Stephan von Huenes. Als seien sie gute alte Bekannte.

Das liegt nicht nur daran, dass diese beiden Künstler befreundet waren. Diese Werke sind miteinander verwandt. Beide wirken äußerst gut gelaunt, sie beziehen ihr Publikum freundlich, aber doch streng mit ein. Fassen Bild und Ton in eins, als synästhetische Rätsel, verspielt- ironisch, zugleich feierlich-ernsthaft. Und beide atmen den gleichen kritischen Geist der Freiheit.

„Lexichaos“ heißt die Klanginstallation Stephan von Huenes, die jetzt, kuratiert von Marvin Altner, im Pierre Boulez Saal Platz gefunden hat (bis 6. April, tägl. 14–19 Uhr, kostenlose Zeitfensterkarten unter der Telefonnr. 47997411 oder über www.boulezsaal.de). Drei schlanke Türme zu Babel, dreieinhalb Meter hoch, jeweils gebaut aus acht unterschiedlich langen, hölzernen Orgelpfeifen, thronen auf ihren Menetekel-Sockeln.

Sie bilden, auch wenn sie hier in Berlin etwas weiter auseinanderstehen als 1990 in Hamburg, bei der Erstausstellung, doch erkennbar eine Skyline, die an Manhattan erinnert oder vielmehr an Gotham City. Aus den Türmen dringen Stimmen. Der Untertitel des Werks ist ein typisch van Huenesches Wortspiel, er lautet: „Vom Verstehen des Missverstehens zum Missverstehen des Verständlichen“.

Sprache zerfällt in Worte, Worte in Pausen

Die Türme erzählen auf Hebräisch, Griechisch und Lutherbibeldeutsch die Geschichte aus dem ersten Buch Mose, die mit den Worten beginnt: „Es hatte aber die Welt einerlei Zunge und Sprache.“ Nur dass diese Einheit heute mehr denn je zerfallen scheint, die Plage des Missverstehens noch viel fatalere Folgen hat als noch vor 30 Jahren. Van Huenes Turmreden tönen, computergesteuert, in unterschiedlicher Dauer und wechselnden Resonanzen. Sprache zerfällt in Worte. Worte zerfallen in Pausen. Auf dem Sockel, werden die Reste der Worte eingesammelt, isolierte Buchstaben, schwarz auf weiß, und weitere „Sehtest“-Tafeln ringsum zäunen den Zerfallsprozess ein. Nähert man sich einer solchen Tafel, schlägt der Bewegungsmelder Alarm: Achtung! Hier stimmt was nicht!

Diese nervtötend schrille Fahrradklingelstruktur der „Lexichaos“-Skulptur verdankt sich, je nach Anzahl und Mobilität der Ausstellungsbesucher, einer Zufallsoperation, ganz im Sinne von John Cage. Die schwarzen Lettern auf den Tafeln dagegen scheinen einer heimlichen musikalischen Ordnung zu folgen, da gibt es Da Capos zu entdecken, Variationen, sogar Sequenzen.

15 Jahre lagerten die tönenden Türme im Helmholtz-Zentrum

Und nach einer Weile, verwandelt sich der „Sehtest“ in einen Wahrnehmungs-, Assoziations- oder Erinnerungstest. Das Herz sehnt sich nach Deutung und Bedeutung. Die Wunde Babel schließt sich, man spricht nach und ergänzt für sich die Lücken zwischen den Lettern: Steht da nicht „Boulez“? Oder: „Umweg“? Oder „Musical Quarterly“? Oder doch wieder: Alles falsch?

Von Huene, der als Amerikaner mit deutschen Wurzeln in der Mitte seines Lebens zurückkehrte nach Deutschland, hat in seinen Werken auf unterschiedlichen Wegen immer wieder die Unbehaustheit der Sprache mit bildkünstlerischen Mitteln erforscht. Aber er war, als Maler, Bildhauer, Zeichner, Handwerker, Computermaschinist und Wissenschaftler zugleich immer auch Musiker und als solcher ein Grenzgänger, auf der kulturpolitischen Spur der Zwischentöne. „What’s wrong with culture?“ heißt eine seiner spektakulären Klangkunst-Serien aus den Neunzigern, die auf „Lexichaos“ folgten, das nun zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder gezeigt wird. Solange ruhten die babylonischen Türme eingesargt im Archiv des Helmholtz-Zentrums der Humboldt-Universität.

Dass sie jetzt wieder tönen können, ist Michael Naumann zu danken, dem scheidenden Rektor der Barenboim-Said-Akademie. Diese Ausstellung ist sein Abschiedsgeschenk. Und siehe da, keine Frage: Dieser Saal und diese Skulptur gehören zusammen. Alles spricht dafür, dass die Barenboim-Said-Akademie dieses Kunstwerk dauerhaft adoptieren sollte. Auch, wenn, hoffentlich bald, der eingefrorene Konzertbetrieb wieder auftaut: Es gibt immer spielfreie Perioden. Und praktischerweise dauert, nachdem die Kisten nun einmal abgestaubt sind, der Inhalt sorgfältig kuratiert ist, die eigentliche Aufstellung von „Lexichaos“ tatsächlich nur einen Tag.

Eleonore Büning

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false