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Kultur: Universal in Jena

Geschichte des 20. Jahrhunderts: Ein Symposium mit Fritz Stern, Ian Kershaw und Dan Diner

„Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, hatte Friedrich Schiller im Mai 1789 seine Antrittsvorlesung als Geschichtsprofessor an der Jenaer Universität betitelt, die später nach ihm benannt wurde. Das Schiller-Jahr ist vorbei, das Thema der Vorlesung bleibt in Thüringen aktuell. Dafür sorgt der an der Schiller-Universität lehrende Zeithistoriker Norbert Frei. „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts?“, nannte er ein dreitägiges, prominent besetztes Symposion im Alten Schloss Dornburg an der Saale.

Die Konferenz eröffnet das auf fünf Jahre angelegte „Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts“, das im Wesentlichen aus einer Gastprofessur sowie einer Doktorandenschule besteht. Die Professur soll in jedem Semester neu besetzt werden; ihr erster Inhaber wird von April an der 79-jährige amerikanische Historiker Fritz Stern sein. Stern eröffnete die Tagung mit einem Vortrag über „Politik und Zeitgenossenschaft im 20. Jahrhundert“. Ermöglicht wurde das Center durch eine Millionenspende des Ehepaars Christiane und Nicolaus-Jürgen Weickart.

Frei signalisiert mit der Auswahl der Referenten die Entwicklungsrichtung des Centers: Gesellschafts-, Kultur- und vor allem Politikhistoriker tragen vor, unter ihnen etwa Freis Vorgänger auf dem Jenaer Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Lutz Niethammer sowie Henry Rousso (Paris), Jeffrey Herf (Washington) oder Ute Frevert (New Haven). Auf Experten der Wirtschafts- oder Umwelt-Geschichtsschreibung wurde verzichtet.„Europa, der Westen – und darüber hinaus?“, lautet eine Fragestellung, und schnell wird klar, welche Probleme der Anspruch mit sich bringt, eine Weltgeschichte zu schreiben. Neben den Großmächten des alten Kontinents hat die Forschung zumeist allenfalls Europas Einflussräume im Blickfeld – die USA, Israel sowie Afrika und Indien als (Sub-)Kontinente der Kolonien. Japan, China, ja bereits Skandinavien und die iberischen Staaten spielen für die neuere Geschichtswissenschaft in Deutschland nur eine geringe Rolle.

Drei wichtige Ursachen dieser Orientierung werden deutlich: Zuvorderst ist die Bedeutung von Staaten und deren transnationalen Bindungen für die Geschichtswissenschaft zu nennen. Die zentrale Rolle des Zweiten Weltkriegs, der primär ein zentraleuropäischer war, steht an zweiter Stelle, wie der Warschauer Historiker Wlodzimierz Borodziej betont. Schließlich muss man die Unübersetzbarkeit von Sprache sowie die von Land zu Land unterschiedliche Deutung von Chiffren nennen. Der Jenaer Westeuropa-Historiker Jörn Leonhard erwähnt Scham, Schuld oder Vertrauen als Begriffe, die sich kaum übersetzen lassen und damit die transnationale Geschichtsschreibung vor Probleme stellen.

Exemplarisch für Orte, die in verschiedenen nationalen Kontexten ganz unterschiedlich konnotiert sind, nennt Dan Diner (Jerusalem/ Leipzig) das polnische Katyn. Die Stadt, in der die Rote Armee 1940 tausende polnischer Offiziere massakrierte, habe sich in das polnische Gedächtnis als „Kreuzigung des polnischen Kollektivs“ eingegraben. Für die westlichen Alliierten war sie ein Beweis dafür, dass man der Sowjetunion nicht trauen kann. Die Nationalsozialisten schließlich schlachteten Katyn zu Propaganda-Zwecken gegen Bolschewisten und Juden aus.

Immerhin lässt sich konstatieren, dass die Berührung der Geschichte durch die Globalisierung stärker wird. Der Münchner Kulturhistoriker Michael Brenner weist darauf hin, dass das 20. Jahrhundert als das erste gelten könne, das für mehrere Weltreligionen einen Bezugspunkt bilde, obwohl es nach dem jüdischen und arabischen Kalender gar keine runden Anfangs- und Enddaten trägt.

Hitler-Biograf Ian Kershaw (Sheffield) markiert den 11. September 2001 als Ende eines „langen“ 20. Jahrhunderts. Während die Historiografie sich in solchen Diagnosen der Politikwissenschaft annähert, wird die Geschichte zugleich zum Gegenstand anderer Zweige. Mit der wachsenden Beachtung von Erinnerungs- und Erfahrungsgeschichte gerät sie in den Blick von Literaturwissenschaft, der Psychoanalyse und der Soziologie. Ob damit wirklich Fragestellungen in den Geisteswissenschaften auf die Agenda kommen, „für die Historiker nicht zuständig sind“, wie es der Tel Aviver Soziologe Natan Sznaider formuliert?

Die Antwort darauf, was Geschichte des 20. Jahrhunderts heißt, wird durch die Disziplinenvielfalt nicht leichter: Kershaw wagte als Einziger eine konkrete Antwort und definierte das 20. als ein Jahrhundert, das von einem Viereck aus Utopie, Gewalt, Wohlstand und Technologie geprägt gewesen sei. Dabei umfasse Wohlstand sowohl das materielle Moment als auch das Verlangen nach Sicherheit. Gewalt präge nicht nur die erste Hälfte des Jahrhunderts und Wohlstand ausschließlich die zweite, sondern beide Phänomene ließen sich auch für die jeweils anderen fünfzig Jahre feststellen.

Fritz Stern sieht das 20. Jahrhundert als eines der Katastrophen und des Umgangs mit ihnen, aber auch als eines der Selbstbefreiungen, siehe 1989. Stern, der in seiner Dissertation vor rund 50 Jahren über den „Kulturpessimismus als politische Gefahr“ geschrieben und geistige Ursachen des Nationalsozialismus analysiert hatte, schlug eine Beschäftigung mit den Gefühlen der Menschen, mit Schlüsselbegriffen wie Trauer und Angst vor. Dabei legt er Wert auf eine zumindest europäische Perspektive. So dürfe man die Ursachen für den „vermeidbaren“ Nationalsozialismus nicht allein in Deutschland suchen. Es sei, so Stern, auch zu fragen, warum Hitler in Europa möglich wurde.

Matthias Langrock

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