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Kultur: Unser Bruderschmerz

Helmut Koopmanns eindringliche Studie über Thomas und Heinrich Mann

Selten sind die widersprüchlichen Möglichkeiten deutscher Selbstverständigung im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert so personifiziert diskutiert worden wie am Beispiel von Thomas und Heinrich Mann. Das Interesse galt einer dramatischen Beziehungsgeschichte, die ebenso mit persönlichen Konflikten verknüpft ist wie mit den Katastrophen eines Zeitalters. Es wurde fast alles untersucht und diskutiert, die literarischen Traditionen, politisch-moralische Beziehungen und die psychoanalytischen Aspekte. Die Bindung der Schriftstellerbrüder aneinander, ob in Zustimmung oder Ablehnung, scheint unzertrennlich. Das weiß kaum jemand besser als der in und mit der vergleichenden Brüderforschung ehrenvoll ergraute Helmut Koopmann. Wie zu erwarten, ist sein neues Buch („Die ungleichen Brüder“) auch aufregender als sein Titel.

Der Autor legt ausdrücklichen Wert auf die Feststellung, dass er nicht „zwei Biographien“ geschrieben habe. Natürlich stützt er sich auf die in Fülle vorhandenen Lebensdarstellungen. „Aber“, so seine berechtigte Frage, „würde uns das Leben der Brüder interessieren, wenn es nicht das Werk gäbe?“ Die von den Biografen für authentisch gehaltene Dokumentationsquelle des „widersprüchlichen brüderlichen Welterlebnisses“ ist neben dem Tagebuch von Thomas Mann in erster Linie die umfangreiche Korrespondenz der beiden. Obwohl sie nur fragmentarisch erhalten ist, sind inzwischen über 300 Briefe ediert. Der „Wettlauf“ zwischen den Biografen und ihrem Gegenstand gleicht dem zwischen Hase und Igel: Die Brüder sind mit ihrer Selbstinterpretation stets schon da. „Wie immer reden die Brüder Mann liebevoll aneinander vorbei“ (René Schickele).

Um diesem Erkenntnisdilemma zu entgehen, verfolgt Koopmann die Spuren der wechselseitigen Abhängigkeiten und Bezugnahmen im authentischsten Terrain der beiden Schriftsteller – in ihrem Werk. Denn da reden sie nicht aneinander vorbei. Nie zuvor ist der Werkdialog der Mann-Brüder so systematisch dokumentiert und gedeutet worden. Thomas und Heinrich Mann schrieben über Jahrzehnte hinweg gegeneinander an, belauerten und stimulierten sich. Der Jüngere musste vor allem lernen, mit der gespreizten Überheblichkeit des Älteren auszukommen, der schon 1900 mit dem Roman unter feinen Leuten „Im Schlaraffenland“ reüssiert hatte. Damals lag von dem 25-jährigen Thomas nur ein schmales Novellenbändchen vor. Doch er holte schnell auf und überholte den brüderlichen Rivalen bereits mit seinem ersten Roman, den „Buddenbrooks“, deren zweite Auflage 1903 zu einem unerhörten Verkaufserfolg wurde.

Die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts, so die These Koopmanns, bedeuteten wohl den wichtigsten Einschnitt für Bruderzwist und Werkdialog. Im literarischen Streit dieser Zeit fielen die entscheidenden moralischen, ästhetischen und politischen Stichworte, die über Jahrzehnte zwar variiert und konserviert wurden. Heinrich beklagte, dass Thomas aus den Buddenbrooks „alle sexuelle Energie sauber herausgeschnitten“ habe und offenbare, dass er „ziemlich einseitig“ von der deutschen Reaktion erzogen sei. Vor allem Heinrichs „Die Jagd nach Liebe“ (1903) verstand sich daher als direkte Antwort und „Fortsetzung“ des brüderlichen Familienromans mit einem deutlichen Plädoyer für die „Passion der Sinne“. Kein Wunder, dass Thomas auf die „dick aufgetragene Colportage-Pyschologie“ und „diese schlaffe Brunst in Permanenz, diesen fortwährenden Fleischgeruch“ genervt reagierte. Dieses amoralische Reich der Sinne kam für ihn einer Anarchie der „Affen und anderer Südländer“ gleich.

Auch seinen Tonio Kröger, so Koopmanns aufmerksamer Hinweis, ließ er nicht mehr nach Italien fahren, da Heinrich bereits mit seinen Göttinnen die einfühlsamen „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ zu einer vulgären „bellezza“ hatte verkommen lassen. Und noch im amerikanischen Exil fühlte sich Thomas von der grotesken Wiederkehr früher „bellezza“-Figuren im „Greisenavantgardismus“ Heinrichs (Empfang bei der Welt, Der Atem) provoziert. Erst in seinem letzten Lebensjahr war der Jüngere bereit, die „bange Verlegenheit“ gegenüber dem Älteren einzugestehen. Und als Heinrich kurz vor seinem Tod dem Bruder ein Buch widmete mit den Worten „Meinem großen Bruder, der den Doktor Faustus schrieb“, war dessen Erschütterung nach eigener Aussage „unbeschreiblich“. „Der Eigentliche“, so Thomas Mann im Rückblick, „wäre wohl der Mann gewesen, den die Natur aus uns beiden hätte formen sollen.“

Helmut Koopmann: Thomas Mann – Heinrich Mann. Die ungleichen Brüder. Verlag Ch. Beck, 502 Seiten, 29,90 Euro

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