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Kultur: Unsere kleine Stadt

Bert Neumann macht die Volksbühne zur Fußgängerzone - und baut den Innenraum in eine Stadtlandschaft um

Von Peter Laudenbach

Von außen sieht es aus wie ein Theater. Immer noch dieselbe Volksbühne, an der Frank Castorf seit zehn Jahren schrille und rüde Realitätsinseln schafft. Jetzt, in der elften Theatersaison, ist der Zuschauerraum verschwunden. Eine Bühne gibt es auch nicht mehr. Keine Parkettsitze, kein Portal, kein roter Vorhang, keine Rampe. Was nicht daran liegt, dass Frank Castorf seinen alten Vorschlag zur Zukunft der Volksbühne plötzlich in die Tat umgesetzt hätte („Wenn dieses Theater keiner mehr will, sollte man lieber ein Schwimmbad für die Berliner Kinder daraus machen").

Bert Neumann, der Chefbühnenbildner des Hauses, hat lediglich etwas prinzipieller über Theater nachgedacht. Das macht Bert Neumann öfter. Und meistens sehen seine Bühnen dann gar nicht mehr wie Theaterbühnen aus. Dann baut er zum Beispiel ein Filmstudio nach, wie für Castorfs Wiener Inszenierung von „Der Meister und Margarita". Oder er stellt für Castorfs Dostojewski-Erkundung „Erniedrigte und Beleidigte" einen Bungalow auf die Bühne, und wenn die Schauspieler sich auf den Couchgarnituren des Flachbaus unterhalten, räkeln und lieben, kann der Theaterzuschauer das nur wie ein Voyeur durch die Bungalowfenster oder in einer dem Reality-TV entliehenen Video-Live-Übertragung verfolgen. Eine Bühne, die „so nach Theater aussieht", interessiert Neumann nicht. Eher geht es ihm darum, Spuren einer außertheatralischen Wirklichkeit ins Kunstschöne einzumontieren, und seien es Fernsehbilder oder die Hässlichkeiten aus der Welt des Konsumgüterdesigns. Nur nebenbei werden dabei essenzielle Gesetze, wie Theater auszusehen hat, zum Beispiel schön, wohlgeformt und etwas erhaben, unterlaufen.

Für die ersten Volksbühnen-Inszenierungen der neuen Spielzeit hat Neumann den kompletten Bühnen- und Zuschauerraum in eine künstliche Stadt verwandelt. Wo früher der Zuschauerraum war, liegt jetzt ein großer, leerer Platz mit einem kleinen, hässlichen Supermarkt samt Glasfenstern, Preisschildern und geschmacksneutraler Multifunktionseinrichtung. „Aber manchmal wird da drin in Castorfs neuer Inszenierung auch geschlafen", sagt Neumann. Die Bedeutung eines Raumes hängt davon ab, wie man ihn nutzt. Und dafür sind Neumanns Bühnenräume da. Sie sollen nicht nur angeschaut, sondern benutzt werden. Einmal, für Castorfs „Endstation Amerika", hat Neumann eine komplette Wohnung mit voll funktionsfähiger Küche, Bad, Fernseher eingerichtet. „Die war bequemer als mein Hotelzimmer in Salzburg. Ich hätte sofort dort einziehen können", sagt Neumann.

Hinter dem Supermarkt in der Volksbühnen-Neustadt findet man ein winziges Zimmer mit weißen Wänden, schalldichter Glastür, Schreibtisch, Computermonitor, Besucherstuhl. Neumann hat das nüchterne Büro einer Partnervermittlungsagentur detailgetreu nachgebaut. Noch weiß niemand, für welche Szenen dieses Büro einmal gut sein wird, aber weil moderne Städte moderne Wege der Kommunikationsanbahnung brauchen, hat eben auch Neumanns Volksbühnen-Stadt so ein intim-sachliches Separee. Was die Regisseure aus Neumanns Parallelwelt machen, ergibt sich meist von allein.

„Bert ist der erste Autor einer Inszenierung", sagt der Regisseur René Pollesch über seinen Kollegen. Für Polleschs Inszenierungen hat Neumann im Prater zuletzt eine lange Zimmerflucht gebaut. Die Zuschauer saßen, halb Mitbewohner, halb Voyeure, zwischen den Zimmern. Ging es in Polleschs Inszenierungen um das Eindringen von Öffentlichkeit, Marktökonomie und Warenwelt in die Privatsphären, dreht Neumann mit seiner neuen Stadtlandschaft die Perspektive um: Vom Innenraum zum Außenraum, von der Nahaufnahme zur Totalen, vom Schlafzimmer zur Welt der Supermärkte, Einkaufszonen, Plätze und Hausfassaden.

Man kann in der „Neustadt“ durch Fenster vielstöckiger Hausfassaden sehen – lauter kleine, fragmentierte Einblicke in halb sichtbare, halb verborgene private Lebenswelten, mal mit Kronleuchter und Biedermeiermöbeln, mal leicht asozial mit vergammeltem Matzratzenlager und Postern an den Wänden. Auf der Drehbühne steht ein mehrstöckiges Gerüst, darin lauter kleine Sitzlogen und weiße Plastikstühle. Von weitem sieht es aus, wie die Fassade eines Urlaubshotels. Darüber leuchtet eine unvermeidliche Neonschrift: „Romantic World".

In den Balkon-Logen können Theaterzuschauer Platz nehmen, und wenn die Drehbühne um ihre Achse kreist, eröffnen sich dem samt Gerüstbau mitgedrehten Publikum überraschende Perspektiven: In die vorbeiziehenden Fenster, in die Ferne des leeren Platzes, in dicht vorübergleitende Fassaden. Und meistens sieht man mehr, als man auf einmal verarbeiten kann, einander überlagernde, durchkreuzende Momentaufnahmen wie in einer Collage von Rauschenberg. Und weil die Sitzlogen in mehreren Stockwerken ansteigen, sieht jeder Zuschauer etwas anderes. Das mag wenig mit den Konventionen und Sehgewohnheiten von Theater zu tun haben, aber umso mehr mit der Erfahrung von Großstadt: Was passiert, nimmt man im Vorbeigehen wahr, lauter kurze, kaputte, gleichgültige Szenen, Bruchstücke von Lebensgeschichten, die manchmal zu Begegnungen, langen Liebesgeschichten, harten Konflikten zusammenwachsen.

Einerseits holt Neumann Wirklichkeitsfragmente, Alltagszitate in den Kunstraum des Theaters. Andererseits soll der Zuschauer nicht von Illusionswelten verführt werden. Deshalb sind die Zimmereinrichtungen der Neustadt so detailgetreu nachempfunden, dass selbst Hässlichkeit sich in ihnen findet. Und die an riesigen Gestellen aufgehängten Hausfassaden haben die Künstlichkeit einer Kulisse. Der Boden, einzelne Gebäudeteile sind nicht dekorativ verkleidet, sondern rohes Baumaterial, einfaches Sperrholz. Deshalb ist es vielleicht ungenau von einer Stadtlandschaft zu sprechen, eher ist der Bühnenraum eine Stadtkulisse, ein riesiges Urbanitätsmodell, das Wirklichkeit behauptet und zugleich seine eigene Künstlichkeit ausstellt.

In dieser Bühne wird Frank Castorf zum Spielzeitauftakt seine dritte Dostojewski-Adaption zeigen („Der Idiot"). Kurz darauf wird René Pollesch denselben Ort für sein Stück „Vierundzwanzig Stunden sind kein Tag" auf ganz andere Weise nutzen. Und nebenbei mit einer theatralischen Neudeutung des großen Films „Die Klapperschlange" von John Carpenter noch einmal ganz anders über kollabierende Großstädte, ein in der kriminellen Apokalypse versinkendes New York und brennende Twin Towers nachdenken. Aber weil Großstädte permanent in Betrieb sind, wäre es Neumann am liebsten, „wenn hier vierundzwanzig Stunden geöffnet wäre". Nicht nur, um Theater zu spielen, sondern zum Beispiel auch für Dienstleistungsangebote: Wer will, kann sich in der Neustadt die Haare schneiden lassen.

So hat Neumann einen Universal-Ort entworfen, der ständig neu definiert wird und doch stets derselbe bleibt. Irgendwann nächstes Jahr wird hier Pollesch einen Film drehen, im Oktober finden Konzerte, Parties, Filmnächte und Diskussionen statt. Um die sich überlagernden Systeme von Dienstleistungs- und Kontrollgesellschaft, um sozialen Ausschluss, Migration und Schattenökonomie geht es in einer langen Nacht der Internationalen Mobilen Akademie. Womit sich die Volksbühne wieder mal neu erfunden hätte – und Frank Castorf lässig signalisiert, dass er sich jederzeit zutraut, nicht nur ein Theater, sondern auch eine Großstadt zu regieren.

Die Neustadt eröffnet am Sonnabend, 12. Oktober, mit René Polleschs „24 Stunden ...“.

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