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Kultur: Unsere unausweichlichste Wahrsagerin

Rund um den Darmstädter Luisenplatz erstreckt sich eine ausgedehnte Fußgängerzone mit vielen Einkaufsmeilen.Unvermutet findet sich in einer dieser Passagen, neben einem Informationszentrum, eine Bemerkung Karl Krolows, des Dichters von der Mathildenhöhe: "Die Stadt ist groß genug.

Rund um den Darmstädter Luisenplatz erstreckt sich eine ausgedehnte Fußgängerzone mit vielen Einkaufsmeilen.Unvermutet findet sich in einer dieser Passagen, neben einem Informationszentrum, eine Bemerkung Karl Krolows, des Dichters von der Mathildenhöhe: "Die Stadt ist groß genug.Man kann in ihren Straßen sagen, was man träumt." Kann man in dieser Szenerie zwischen Fischrestaurant, Designerboutique und Schuhparadies aber von Elfriede Jelinek sprechen? Ist das Werk der neuen Georg-Büchner-Preisträgerin, der Schriftstellerin, Dramatikerin, Hörspielautorin tauglich fürs Einkaufszentrum? Wie kein zweites, will es scheinen.Von Anfang an hat sie die an den Konsum gekoppelten Sehnsüchte, vor allem die weiblichen, mit sarkastischer Ratlosigkeit entlarvt.Eines ihrer schönsten frühen Hörspiele trägt den Titel "Wenn die Sonne sinkt, ist für manche auch noch Büroschluß".Die Kunstfiguren des Kaufhauskönigs Markus und der rehäugigen Verkäuferin Gaby, zwischen denen die Liebe ausbricht, sind als geschlossene Nicht-Individuen gezeichnet.Mit gestanzten Dialogen aus dem Groschenroman vertreten sie ein ureigenes Jelineksches Anliegen: die Demontage der idealistischen Philosophie - zuletzt explizit in ihrem Anti-Heidegger-Stück "Totenauberg" vorgenommen.Der Mensch hat keine Wahl: Die im Kapitalismus suggerierte Entscheidungsfreiheit ist eine "Wunschmaschine als Waschmaschine der Wirklichkeit" und somit Teil des Systems.

Dies Hörspiel schrieb die Österreicherin 1972.Seitdem ging sie konsequent ihren Weg, bis sie vor drei Jahren mit dem opus magnum "Die Kinder der Toten" auf einsamem Niveau all ihre Themen, Anklagen und Besessenheiten bündelte und mit dem Leichengift der Hoffnungslosigkeit vermischte.Das Buch hat die teuflische Seitenzahl 666.Gerichtet ist es gegen Österreich, die vergeßliche "Ostmark".Wie viele zum Teil gewollte Mißverständnisse gab es nicht schon, etwa um Jelineks Roman "Lust", den Versuch einer "weiblichen Pornographie".Die von Industrie und Fremdenverkehr geschändete Natur und ihre Verbündeten, die im Patriarchat zum vegetativen Dasein verdammten Frauen bilden die Gegenwelt zur Hegemonie der Männer; eine Autorin wagt es, auf die Nerven zu gehen.Sie ist eine ganz Große.Der Preis kommt zur richtigen Zeit.

Elfriede Jelinek stand auf der Bühne des Staatstheaters Darmstadt und schien alles nicht recht zu glauben.Christian Meier als Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verlas die Urkunde einer Auszeichnung, deren Status als wichtigster deutschsprachiger Literaturpreis in jüngster Zeit nicht mehr ganz unangefochten gewesen ist.Konkurrenz droht vom opulenten Joseph-Breitbach-Preis.Geehrt und mit 60 000 DM bedacht wurde Elfriede Jelinek, die Aufklärerin und sprachliche Demiurgin aus Mürzzuschlag in der Steiermark, "für die vielstimmige Kühnheit ihres erzählerischen und dramatischen Werks, worin sie sprachbesessen die Sprache vor ihr eigenes Tribunal zieht, liebessüchtig den Riß zwischen Lust und Zärtlichkeit aufdeckt, zornig für die ausgeschlachtete Natur in einer verblendeten Zivilisation eintritt und friedliebend den Verlust der Güte und Herzlichkeit zwischen den Geschlechtern, den Generationen, zwischen den Mächtigen und den Hilflosen beklagt." Man hätte gerne gewußt, ob der Preisträgerin diese Beschreibung ihres Tuns nicht zu harmonisierend geraten war - ging es hier wirklich um die Autorin der zynischen Mutter-Tochter-Verkapselung "Die Klavierspielerin"? Wir werden es nicht erfahren, denn Elfriede Jelinek zog sich mit ihrer Dankrede ganz ins Textliche zurück.Ähnlich wie in ihrem jüngsten, bei den Salzburger Festspielen uraufgeführten Anverwandlungs-Stück über Robert Walser, "er nicht als er" ging es in Darmstadt um einen ungenannten Medizinstudenten: den Mitautor der revolutionären Flugschrift "Der Hessische Landbote", Georg Büchner.

Ivan Nagel sagte in seiner Laudatio, daß kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller der zweiten Jahrhunderthälfte so geschmäht worden sei wie Elfriede Jelinek.Als "rote Pornographin" oder "Kunst- und Kulturschänderin" gilt sie einer Phalanx von der FPÖ über die "Kronenzeitung" bis zu Teilen des Klerus."Warum der Haß?" fragte Nagel und ging auf die Bedeutung der Lüge im Werk der Autorin ein: "Jelinek hat aus dem Sammelbegriff Mensch die Frau und die Österreicherin herausgebrochen, deren Sinn darin besteht, dem Mann das Leben schön zu machen." Ihr Werk bebe und zucke in den Fängen der Lüge, die sie mittels der Montage entlarve.Eine Wahrsagerin sei Jelinek, "die unausweichlichste, die wir haben".

Zwei weitere Ehrungen komplettierten die Darmstädter Herbstkollektion: der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay ging an den rätoromanischen Kritiker Iso Camartin, der sich mit einem reizvollen Diskurs über das "Sporgersi", das Sich-Hinauslehnen im Zug und im literarischen Leben, bedankte.Den ebenfalls mit 20 000 DM dotierten Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa erhielt die Freud-Editorin Ilse Grubrich-Simitis.Sie verteidigte die Psychoanalyse gegen grassierende Angriffe in den letzten Monaten.

1923 war der Georg-Büchner-Preis vom Volksstaat Hessen als Bekenntnis zur Weimarer Republik in schwieriger Zeit erstmals vergeben worden.Christian Meier erinnerte daran "in einer Zeit ohne äußere Not, aber der inneren Orientierungslosigkeit".Er nutzte seine Rede zu einem flammenden Plädoyer gegen die Rechtschreibreform.Das "Beharren auf der Lächerlichkeit" kennzeichne die föderale Kulturpolitik.Er appellierte erneut vor den versammelten Honoratioren vom hessischen Ministerpräsidenten über Unseld senior und junior bis zu Michael Naumann, die sogenannte Reform zurückzuziehen.Das leidige Thema hatte die Herbsttagung über "Die Zukunft der deutschen Sprache" immer wieder gekreuzt.Zwar nahmen sich die - durchweg männlichen - Referenten tapfer vor, statt über den weltweiten Vormarsch des Englischen als Lingua franca und den Bedeutungsverlust des Deutschen in den Wissenschaften zu klagen, allein die Tatsachen zu analysieren, doch ließ sich ein pessimistischer Grundton kaum vertreiben.Jörg Drews forderte in seinem Vortrag über das "Denglisch" dazu auf, den angloamerikanischen Einfluß ("Coole docs für kids") als spielerische Bereicherung aufzufassen.Solange die Tiefenstruktur einer Sprache, Morphologie und Syntax, noch nicht aufgeweicht seien, bestehe keine Gefahr.Für bedenklicher hielt er es, daß die geringe Liebe der Deutschen zu ihrer Muttersprache ein instabiles Selbstvertrauen verrate.Andreas Kemmerling dagegen schlug für die Fakultät Hegels Alarm: "Was passiert, wenn sich die Wissenschaftssprache aus Gebieten zurückzieht, in denen sie führend war, wie in der Philosophie und der Physik?" Die Akademie erwägt die Gründung eines Gremiums, das die Sprachentwicklung kritisch begleiten soll.Das klingt ein bißchen nach einer Jelinekschen Wunschmaschine.

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