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Kultur: Unter dem Damoklesbein

Was Tiere sehen: Mit seinem Debütfilm „Hukkle“ hat György Pálfi den avantgardistischsten Dorffilm aller Zeiten gedreht

Alles ist eine Frage der Perspektive. Vor allem die Erkenntnis ungarischer Dörfer. „Hukkle“ ist aus der Weltsicht des Schluckauf gedreht. „Hukkle“ ist ungarisch und heißt Schluckauf. Außerdem ist „Hukkle“ ohne Zweifel der avantgardistischste Dorffilm seit Menschengedenken. Und außerdem ist er der Debütfilm des 29-jährigen György Pálfi. Wer sich an „Mikrokosmos“ erinnert, diesen Bericht aus dem wilden Leben der Gräser und Käfer, besitzt schon eine Grundvertrautheit mit „Hukkle“. Allerdings hat es „Mikrokosmos“ nie über die Gräser und Käfer hinausgeschafft, „Hukkle“ dagegen ist wie jeder echte Dorffilm in Wirklichkeit ein Thriller. Aber das merkt man nicht gleich.

Zuerst ist da ein alter Mann in einem alten Haus. Solche alten Männer wie diesen gibt es bei uns gar nicht mehr und solche alten Häuser auch nicht. Der Mann gießt Milch in eine Kanne und außerdem hat er Schluckauf. Das erschwert das Milcheingießen. Dann macht er, was jeder alte Mann tun würde – er setzt sich vor das Haus auf eine Bank und lässt die Idiotie des Landlebens an sich vorbeiziehen. Er könnte, wie er da sitzt, das Auge Gottes sein, aber er hat noch immer Schluckauf. Und bei jedem Schluckauf bohrt sich das rechte hintere Bein seiner Bank in den Boden, um im nächsten Augenblick wieder frei in der Luft zu schweben. Unter dem rechten Bankbein aber wohnen die Ameisen. Ein apokalyptisches Zuhause. Bedächtig und ganz nah filmt Kameramann Gergely Pohárnok das tiefhängende und immer wieder niederfahrende Damoklesbein über dem Ameisenstaat. Das ist der Blick des Films. Er ist von einer unbeschwerten, lebensfrohen Grausamkeit, und ihm entgeht nichts.

Wir lernen, dass unsere alltägliche Art, die Welt zu sehen, nur eine von unendlich vielen möglichen ist, und es ist bestimmt die unoriginellste. Wie die Störche von ihrem Nest aus auf das Dorf und die kegelnden Männer sehen! Dieses abschätzige Schauen. Seltsamerweise werden die Männer immer weniger. Aber den Männerschwund auf ungarischen Dörfern erklärt „Hukkle“ erst ganz zum Schluss. Menschen sind lächerlich, mit den Augen der Tiere gesehen. Andererseits: wie viele Möglichkeiten es gibt, ein Schwein zu betrachten! Wenn György Pálfi und sein Kameramann ein Schwein filmen, dann haben sie in einer einzigen Einstellung das Wesen des Ebers an und für sich. Man muss vor allem seinen Gang festhalten, am besten von hinten, und in der Bildmitte schwankt das mächtige, gehbehindernde Geläut. Wie das Schwein, der Storch, die kegelnden Männer und der alte Mann auf der Bank, dessen Schluckauf ewig ist, zusammenhängen, ist die Erfahrung einer ganzen Bilderreise.

Und einer Tonreise. Denn die Tonspur ist den Bildern absolut ebenbürtig. Nein, sie ist ihr überlegener Kommentar. Hörtsieht man „Hukkle“ als Fuge, so hat man zwei gleichberechtigte Stimmen. Soll man noch erwähnen, dass „Hukkle“ stumm ist? Stumm im Sinne der Abwesenheit von menschlicher Sprache. Das ist konsequent, schließlich ist unsere Sprache nur eine von undenkbar vielen und außerdem das am bedenkenlosesten gebrauchte Instrument, den Blick auf die Welt zu verstellen. In „Hukkle“ aber geht es um das Wesentliche. Und um den Männerschwund in ungarischen Dörfern.

Balazs, Filmkunst 66, fsk (OmU)

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