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Kultur: Unter den Augen des großen Vorsitzenden

"Wir treffen uns vor dem Wohnheim der Familienplanungskommission", hatte Du Haibin am Telefon gesagt. Zwei uniformierte Polizisten bewachen das Tor.

"Wir treffen uns vor dem Wohnheim der Familienplanungskommission", hatte Du Haibin am Telefon gesagt. Zwei uniformierte Polizisten bewachen das Tor. Für Du Haibin ist das kein gewöhnlicher Ort für ein Interview. Du, dessen Arbeit "Along the Railway" auf der Berlinale gezeigt wird, ist ein Dokumentarfilmer, der alleine mit seiner Kamera loszieht. In China darf sein Film nur heimlich als VCD-Kopie gehandelt werden. "Das heißt aber nicht, dass ich mich verstecken muss", sagt Du, als er nach ein paar Minuten im Parka vor dem Tor erscheint.

Berlinale 2002 Online Spezial: Internationale Filmfestspiele Tagesspiegel: Alle Berichte, Reportagen, Rezensionen Gewinnspiel: meinberlin.de verlost Filmbücher Fotostrecke: Ausschnitte aus den Wettbewerbsfilmen Du Haibin gehört zu einer neuen Generation chinesischer Filmemacher. 13 von ihnen sind derzeit im Sonderprogramm der Berlinale vertreten. "Elektrische Schatten" nennen die Veranstalter das Programm, eine wörtliche Übersetzung des chinesischen Wortes für Film: "dianying". Die Filmemacher sind in einer Zeit der Öffnung und des Umbruchs groß geworden. "Ich will Filme machen, die unser Lebensgefühl widerspiegeln. Das gab es bisher in China nicht", sagt der Regisseur Wang Quanan.

"Along the Railway" dokumentiert eine Gruppe heimatloser Kinder und Jugendlicher, die neben der Eisenbahnlinie von Baoji gemeinsam das chinesische Neujahrsfest feiern. Die Protagonisten nennen sich nach ihren Heimatprovinzen. Kleiner Xinjiang, Dicker Gansu, Großer Sichuan. "Eigentlich wollte ich nur ein paar Aufnahmen machen", erzählt Du später vor einer Schüssel in Chilisoße schwimmender Fischbrocken. Baoji ist Dus Heimatstadt, tief in der Provinz Shaanxi. "Dann wurde mir klar, dass ich über diese Jugendlichen einen Film machen will", sagt der 29-Jährige. Geld hatte er keines. Die 20 000 Yuan, rund 2800 Euro, die der neunzigminütige Dokumentarfilm am Ende kostete, lieh er sich zusammen. Als Ein-Mann-Team drehte der Absolvent der Pekinger Filmakademie auf einer normalen Videokamera. Den Schnitt machte er an seinem Heimcomputer. Die englischen Untertitel schrieb ein Freund.

"Das Konzept des Dokumentarfilms ist für China noch ziemlich neu", sagt Du. Früher habe es in China nur Spielfilme oder Propaganda gegeben. Unter Dokumentarfilmen verstanden Pekings Staatsfilmer vor allem beschönigende Porträts der KP-Führer. Doch die Zensur ist für Chinas junge Filmemacher längst nicht mehr das prägende Thema. Du Haibin ignoriert sie einfach. Für seinen neuen Film ist Du Haibin in Pekings Untergrund gegangen. Er handelt von Arbeitern, die tief in der Erde unter einem Pekinger Hochhaus leben. "Obwohl ich Chinese bin, hatte ich keine Ahnung, wie diese Menschen leben."

Auch Wang Quanan ist die Zensur egal. Mit seinem Spielfilmdebüt "Lunar Eclipse", einer eleganten Geschichte über Liebe, Verlangen und Betrug, hat er den vielleicht innovativsten chinesischen Film der vergangenen Jahre geschaffen. "Vor ein paar Jahren hätte man ihn wahrscheinlich als einen Untergrund-Film bezeichnet", sagt Wang im Starbucks Café. Doch in den chinesischen Kinos war er ein Erfolg. Einige Filme seien im Westen nur deshalb bekannt und mit Preisen ausgezeichnet worden, meint der 36-Jährige, weil sie in China von der Zensur abgelehnt wurden. "Ich denke, wir sollten dieses Spiel nicht mitspielen", sagt Wang. Weil er künstlerische Freiheit wollte, verzichtete Wang auf eine Zusammenarbeit mit den großen Filmstudios. Die rund vier Millionen Yuan (560 000 Euro) Produktionskosten finanzierten private chinesische Geldgeber. "Im Mittelpunkt früherer Filme stand immer die Verantwortung", sagt Wang. "Für mich zählt dagegen die individuelle Erfahrung."

Harald Maass

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