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Kultur: Unversöhnlich

Spielzeit Europa: Die britische Truppe DV 8 provoziert mit einem Stück zur Multikulti-Debatte

„Lassen Sie mich ausreden“, insistiert die junge dunkelhäutige Frau auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele. „Jene Leute, die mich töten wollen, weil ich dem Islam abgeschworen habe, sind eindeutig inspiriert von islamischen Schriften, dem Beispiel des Propheten und dem, was ihnen im Koran dafür versprochen wird. Je schneller Sie das akzeptieren, desto schneller werde ich meinen Bodyguard los!“ Harter Tobak , findet ihr Nachbar, aber als er zur Gegenrede anhebt, wird beiden das Mikrofon weggenommen.

„Can We Talk About This?“, so der fragende Titel des Gastsspiels, das die britische Theatertruppe DV 8 im Rahmen der Spielzeit Europa aufführt. Nein, lautet die Antwort, allenfalls können im Ringen um Fragen nach religiöser Akzeptanz und gesellschaftlichem Respekt Argumente gegeneinander abgefeuert werden. 75 Minuten lang reden die zehn Darsteller ununterbrochen auf einander und das Publikum ein, fast immer aneinander vorbei und vor allem mit hohem physischen Einsatz. Zusammenklappende Torsi, wackelnde Köpfe, schlängelnde Körper, sinnlos gestikulierende Extremitäten – als ob die inhaltlichen Probleme der Debatte auf körperlicher Ebene eine absurde Entsprechung finden sollen.

DV 8-Direktor Llyod Newson, seit den 80er Jahren ein Vorkämpfer für die Rechte von Schwulen und Lesben, hat sich nie gescheut, der politisch korrekten Welt zu nahe zu treten. In seinen Stücken bekämpften sich Homosexuelle gegenseitig, mutierten Heteros zu Vergewaltigern, wurden Behinderte den gnadenlos gesellschaftskonformen Blicken ausgesetzt. Jetzt ist der Multikulturalismus dran und mit ihm die Frage: Was muss eine tolerante Gesellschaft akzeptieren? Ganz oben auf Newsons Agenda stehen der Islamismus und die europäischen Debatten um die Meinungsfreiheit. Der Mord an Filmemacher Theo Van Gogh, der Karikaturenstreit, mit dem Tode bedrohte Muslimas, die Zwangsehen entflohen sind: All jene Diskussionen zu politischer Korrektheit, Kulturrelativismus, Islamophobie und Doppelstandards, die in den letzten Jahren in Westeuropa geführt wurden, werden noch einmal hervorgeholt.

Einen gewissen Mehrwert an Information hat das erst da, wo es um weniger bekannte Fälle und spezifisch britische Probleme geht. Etwa um einen entlassenen Schulleiter, der des Rassismus verdächtigt wurde, weil er den staatlichen Multikulturalismus für gescheitert erklärte, oder um britische Politiker, die sich aus Angst, Wählerstimmen zu verlieren, nicht öffentlich zum Thema Zwangsehe äußern wollen.

Mehr als 40 Interviews hat Lloyd Newson geführt, mit Journalisten, Schriftstellern, Menschen- und Frauenrechtsaktivistinnen, Islamkritikern und Islamisten, enttäuschten Anhängern und entschiedenen Kritikern des Multikulturalismus. Ihre Geschichten und Positionen lässt er auf der Bühne aufeinanderprallen – ein Bombardement schlagkräftiger Unversöhnlichkeit jenseits möglicher Ausgewogenheit von Argumenten und ohne jegliche Differenzierung der Debatte. Die Zuspitzung, so provokativ sie erscheint, wirkt mangels choreografischer Vertiefung ziemlich didaktisch. Trotz des körperlichen Aktionismus entsteht mit der Bewegung keine weitere Ebene, die dem Thema eine neue Dimension eröffnen würde, Und die vermisst man nicht nur an diesem Agitprop-Theaterabend am meisten, sondern auch in der Realität. Elisabeth Nehring

Haus der Berliner Festspiele, noch einmal am heutigen Samstag, 20 Uhr

Elisabeth Nehring

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