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Kultur: Urgestein? Jungbrunnen!

Kaffeekränzchen, das war gestern. Immer mehr Senioren machen ihre Erinnerungen produktiv. Zwei Vereinsbesuche.

Schnell jetzt, der Sekt wird warm! Aber Ordnung muss sein. Anstoßen? Margrit Pawloff will das Zeichen nicht geben. Sie lässt den Blick über die liebevoll auf den Mehrzwecktischen verteilten Tannenzweige, Kerzen und Weihnachtservietten schweifen. Dann zeigt sie auf die Dame neben sich: „Für das Anstoßen ist die Veranstaltungsleiterin zuständig!“ Großes Gelächter, alle heben die Gläser. Diese Vereinssitzung ist kein Ort der Traurigkeit.

Im Gegenteil: Sie ist eine übermütige Attacke auf zu viel Ernst im Leben. Die Jahresversammlung steigt im Nachbarschaftstreff eines Plattenbaus in Mitte, die Vereinsvorsitzende beginnt mit ihrem Jahresbericht. Pawloff, 75 Jahre alt, schwungvoll gelegte Frisur und noch schwungvollerer Wortwitz, spricht gekonnt, immer zwischen gespielter Vereinsbürokratie und feiner Ironie. Allesamt sind die Mitglieder im „Bürgerverein Berolina“ längst in Rente, allesamt interessieren sie sich fürs Erzählen und Erklären. Ihr Verein verfolgt ein einziges Ziel: Erinnerungen aufschreiben und bewahren.

Älter werden  – in diesen jugendbesessenen Zeiten erscheint das vielen als ein erster kleiner Tod. Die Berolinas sehen das anders. Ihre Zeit ist dicht gefüllt. Zweimal im Monat treffen sie sich zur Schreibwerkstatt. Besprochen werden dann auch die Einsendungen für eine eigene Zeitschrift, die der Verein bereits seit imponierenden 15 Jahren nahezu ohne Förderung dreimonatlich herausgibt.

Der „Wortspiegel“ ist ein buntes Blatt: Jugendgeschichten aus der Kriegszeit reiben sich an einem Bericht „meiner letzten Kur“, ein langes „Kräutergedicht“ prallt gegen die Erinnerungen einer Messehostess in den 60er Jahren. Beim Lesen findet man die Mixtur zuerst kurios – und begreift dann, dass es gerade um diese grandiose Vielfarbigkeit geht. Ziel der Sache ist der Abbau von Schranken, die Ermöglichung von wildem Erinnerungsdurcheinander. Oder, um mit der Programmschrift des Vereins zu sprechen: „Was nicht aufgeschrieben ist, ist schon vergessen. Die Geschichte besteht aus der Summe der Einzelschicksale.“

Immer schon haben ältere Bürger viel Freizeit in Vereine, Initiativen und Hobbykreise gesteckt. Weil aber die Gesellschaft insgesamt altert, wird die Frage dringlicher: Mit welchem Pfund können Rentner wuchern? Man muss nur im Internet das Berliner „Ehrenamtsnetz“-Portal durchgehen, um festzustellen: Die Älteren bringen sich seit einigen Jahren verstärkt dadurch ein, dass sie ihr Lebensalter thematisieren. Mit ihren Erinnerungen haben sie etwas zu bieten, das vielen in der schneller werdenden Zeit zu fehlen scheint: Hintergrund, Geschichte, Fundament.

Von der Privatinitiative bis zum Stiftungsunternehmen wird die Erinnerung älterer Menschen auf allen Ebenen fruchtbar gemacht. In Berlin gibt es längst ein lebendiges Geflecht von Initiativen, die sich dem Dialog zwischen den Generationen verschrieben haben. Berühmt ist die Berliner „Zeitzeugenbörse“. Der Verein nimmt Menschen mit aufschlussreichen Lebenserinnerungen in seine Kartei auf, zur Zeit können etwa 180 Berliner zum Erzählen eingeladen werden. Ob Weimarer Republik oder NS-Zeit, DDR oder West-Berlin: Die Zeugen machen Zeitgeschichte anschaulich. Sie treten in Schulen auf oder werden vom Goethe-Institut angefragt, immer öfter greifen auch Historiker auf ihre Erinnerungen zurück.

Mehr als 4000 Mal sind die „Börsianer“ seit Vereinsgründung 1993 vor Publikum aufgetreten, hunderte Suchanfragen werden jedes Jahr bearbeitet. Eva Geffers ist die Leiterin der Zeitzeugenbörse. Gerade habe sie eine E-Mail vom koreanischen Konsulat bekommen, erzählt sie im Gespräch: In Südkorea beginne gerade die Aufarbeitung der koreanischen Schicksale unter Stalin – auch Koreaner landeten in sowjetischen Lagern. Das Konsulat fragt jetzt, ob jemand sich noch an das sowjetische Gulagsystem erinnert – und vielleicht auch an koreanische Mithäftlinge.

Einfach und schmerzfrei ist die Erinnerungsarbeit ganz offensichtlich nicht. Aber nötig. Eva Geffers wird die Frage der Koreaner weitergeben, genauso wie der monatliche Vereinsbrief Dutzende derartiger Suchaufträge präsentiert: „Gesucht werden ehemalige DDR-Bürger, die bereit sind, private Fotografien zu zeigen.“ Oder: „Gesucht werden Zeitzeugen, die sich an die Wahrnehmung der Kuba-Krise in Berlin erinnern.“

Erst kürzlich war das Konzept einer von nur 20 Finalisten beim renommierten „Deutschen Engagementpreis“, bei dem 1000 Akteure zur Auswahl standen. Eva Geffers lacht, sie sprudelt vor Ideen: Die älteren Zeitzeugen könnten zum Beispiel noch viel mehr auf die jüngeren Berlin-Touristen eingehen. Bereits jetzt würden Vereinsmitglieder einmal im Monat ein Hostel am Rosenthaler Platz besuchen. Zuletzt hätte dort eine jüdische Holocaust-Überlebende den Backpackern ihre Lebensgeschichte erzählt. „So was muss man doch viel mehr machen!“, ruft Geffers, „die Touristen sehen die Berliner doch sonst nur aus der Ferne!“

Die Zeitzeugenbörse ist längst nicht ausgelastet, ihre Mitglieder freuen sich immer über Einladungen. Da geht es ihnen ähnlich wie – auf übersichtlicherem Level – dem Bürgerverein Berolina. Dort sind die Sektgläser inzwischen geleert. Gesprächsthema ist jetzt die Zukunftsplanung. Die Berolinas überlegen, welche Institutionen sie als Nächstes für Zeitzeugenlesungen anfragen können. Jemand schlägt ein Gymnasium in der Nähe vor, eine Dame aus Bernau will dort alle Einrichtungen abklappern. Und wie geht es nach der Vereinssitzung weiter für diese wildbewegten älteren Menschen? Margrit Pawloff verkündet, dass es jetzt aber wirklich Zeit für das Buffet und die Jahresbilanz hiermit beendet sei. Oder, in ihren Worten: „Sind wir am Ende? Nein, nur am Ende unserer Sitzung!“

Die Zeitschrift „Wortspiegel“ des Bürgervereins Berolina kostet 3 Euro, Jahresabo 11 €. Kontakt: Berolinastr. 5, 10178 Berlin oder E-Mail an mpawloff@freenet.de. Infos zur Zeitzeugenbörse im Internet unter www.zeitzeugenboerse.de.

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