zum Hauptinhalt
Ursula Meier gewann 2012 für "Winterdieb" einen Silbernen Bären.

© Thilo Rückeis

Ursula Meier auf der Berlinale: Meine Zeit mit dem Winterdieb

In „Shock Waves - Diary of my Mind“ drehte Ursula Meier zum dritten Mal mit Kacey Mottet Klein. Ein Treffen mit der Regisseurin.

Von Andreas Busche

Wie spielt man einen Teenager, der seine Eltern erschossen hat? Der auf die Frage des Richters, warum er seine Eltern so hasste, mit leeren Blicken antwortet? „Ich habe Kacey gesagt, dass er alle Psychologie vergessen soll“, erzählt Ursula Meier, die Regisseurin des Films „Diary of my Mind“ im Gespräch 24 Stockwerke über dem Potsdamer Platz. „Seine Figur ist zu Beginn des Films verschlossen. Seine Tat realisiert er erst, als ihn am Schluss das Bild seiner blutigen Hände wieder einholt. Das Blut seiner Eltern.“

Geholfen hat, dass der 19-jährige Kacey Mottet Klein und Ursula Meier sich blind verstehen. Der siebzigminütige „Diary of my Mind“ aus der vierteiligen Anthologie-Serie „Shock Waves“ über Schweizer True-Crime-Fälle, die im Panorama läuft, ist bereits ihre dritte Zusammenarbeit. Meier entdeckte Kacey 2007 beim Casting für ihren Debütfilm „Home“ mit Isabelle Huppert und Olivier Gourmet, eine skurrile Komödie über eine dysfunktionale Familie, die an einer stillgelegten Autobahn lebt. 2012 war Meier mit „Winterdieb“ in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen, wo ihr Film einen Silbernen Bären gewann. Kacey spielte darin den jungen Simon, der sich und seine Mutter mit Diebstählen an den Pisten und in den Touristenhotels eines Ski-Ressorts durchbringt. Es war eine berührende Performance, wie der schmächtige Junge mit der gestohlenen Ski-Ausrüstung auf dem Rücken durch den Schnee stapft und in gebrochenem Englisch den Touristen seine Hehlerware anbietet. Ein Zehnjähriger ohne Kindheit.

Die Rolle hatte Meier speziell für Kacey Mottet Klein geschrieben. „Das erste Mal bemerkte ich Kacey“, erinnert sie sich, „als er zum Casting für ,Home‘ stürmte. Er wollte nicht mal, dass seine Mutter ihn begleitet, was in dem Alter ungewöhnlich ist. Der Castingprozess mit jungen Laien ist aufreibend, man muss möglichst schnell herausfinden, welche Schranken die Kinder haben. Kacey hatte überhaupt keine, er öffnete sich sofort. Man konnte gleich sehen, was für ein toller Schauspieler in ihm steckt.“

Vergleichbar mit Richard Linklaters „Boyhood“

Schon damals begann Meier, ihn neben den Dreharbeiten zu filmen, auch danach blieben sie in Kontakt. Seine erste Rolle in einem großen französischen Film, als der kleine Serge Gainsbourg, vermittelte ihm Meier. Die Ähnlichkeiten mit der Rampensau des Chansons sind trotz des Altersunterschieds verblüffend: Kaceys abstehende Ohren, seine staksige Physis, die ruhelose Intensität in den Augen. „Ich habe seiner Mutter gesagt, dass es ein Fehler wäre, die Rolle nicht anzunehmen“, meint Meier mit sichtbarem Stolz.

Kacey Mottet Klein in "Diary of my Mind"
Kacey Mottet Klein in "Diary of my Mind"

© Bande à part Films / Jeanne Lapoirie

Kacey Mottet Klein in den Filmen von Ursula Meier aufwachsen zu sehen, ist vergleichbar mit der Erfahrung der Adoleszenz in Richard Linklaters „Boyhood“. Aus dem Material, das Meier über die Jahre mit ihm drehte, entstand der 15-minütige Dokumentarfilm „Kacey Mottet Klein, Birth of an Actor“, der für ein Schweizer Filmbildungsprogramm produziert wurde. Er wird bis heute an Schulen gezeigt. Kacey spricht im Film über seine Erfahrungen bei den Dreharbeiten, wie er sich auf seine Rollen vorbereitet. Seine Eloquenz ist erstaunlich, erst recht wenn man bedenkt, dass er nie eine Schauspielschule besucht hat. „Es war das erste Mal, dass er das, was er vor der Kamera macht, in Worte gefasst hat“, sagt Meier. „Der Film kam zum richtigen Zeitpunkt.“

Beginn eines Abnabelungsprozesses

„Diary of my Mind“ ist der nächste logische Schritt in der Zusammenarbeit von Mottet Klein und Meier. Er hat bisher ein überschaubares Portfolio, seine Rollen sind sehr bewusst gewählt, etwa die des Außenseiters im Coming-of-Age-Drama „Mit Siebzehn“ von Regie-Altmeister André Téchiné, einer der schönsten Filme der Berlinale 2016. Für die Rolle des jugendlichen Mörders Benjamin, der seine Französischlehrerin, gespielt von Fanny Ardant, zu seiner Komplizin im Geiste macht, betraten er und Meier bislang unbekanntes Territorium, wie die Schweizer Regisseurin meint. Aber es war ein Film, den sie unbedingt mit ihm machen wollte. „Bei den Dreharbeiten war Kacey gerade achtzehn, diesen Moment des Erwachsenwerdens wollte ich festhalten.“ Wie vertraut sich Kacey Mottet und Meier sind, entging auch am Set niemandem. Lionel Baier, einer der Produzenten von „Shock Waves“, habe zu ihr gemeint, dass „Diary of my Mind“ von der Beziehung zwischen ihr und Kacey handeln würde, erinnert sie sich in Berlin. Als Benjamin seine Eltern erschießt, zielt er einmal knapp an der Kamera vorbei – auf sie. „Unbewusst habe ich diesen Take für die finale Fassung ausgewählt“, lacht sie.

Vielleicht der Beginn eines Abnabelungsprozesses. „Kacey war schon bei den Dreharbeiten zu ,Winterdieb‘ ein richtiger Schauspieler. Aber ich fühle mich für ihn verantwortlich“, meint Meier fast entschuldigend. „Wenn du ein Kind in einem Film besetzt, greifst du in sein Leben ein und veränderst es.“ Im europäischen Kino wird Kacey Mottet Klein seine Spuren hinterlassen. Nach Berlin hat er es dieses Jahr nicht geschafft, er ist kurzfristig krank geworden. Aber „Diary of my Mind“ wird nicht sein letzter Film auf der Berlinale gewesen sein.

23.2., 19 Uhr (Zoo Palast)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false