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Zweiter Hinterhof, Souterrain links. Auch Horst Buchholz und Harald Juhnke lernten hier das Theaterspielen.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Vaganten Bühne Berlin: Wir Kellerkinder

Die Vaganten Bühne ist eins der ältesten Privattheater der Stadt. Das 70. Jubiläum feiert sie mit der Revue "Spreeperlen". Da ist Musike drin.

Das wär’s doch. 70 Jahre Vaganten Bühne in neunzig Minuten. Eine Geburtstagsshow, die im Schweinsgalopp quer durch die Aufführungen aller Jahrzehnte fegt. Angelehnt an den vom seligen Andreas Schmidt 1997 als seine erste Regiearbeit überhaupt für das Haus eingerichteten komödiantischen Dauerbrenner „Shakespeares sämtliche Werke“.

Theaterchef Jens-Peter Behrend verdreht die Augen. So ein Jubiläums-Kokolores ließe sich aus dem durchweg ernsthaften Repertoire der Bühne kaum destillieren. Schließlich haben sie hier Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“ ab den fünfziger Jahren satte tausend Mal aufgeführt. In den Sechzigern profilieren sie sich als Avantgarde-Bühne West-Berlins und spielen die Existenzialisten und das Absurde Theater rauf und runter, um nur zwei Belege für den herrschenden aufklärerischen Geist anzuführen, der auch Jungschauspieler wie Horst Buchholz, Harald Juhnke und Dieter Hallervorden anzog.

Aber zum Jubiläum wird dann doch lieber ein populärer Knaller gezündet. „Spreeperlen“ heißt die Berlin-Revue für fünf Schauspielerinnen und Schauspieler und einen Pianisten. In wenigen Stunden ist die Premiere. Doch Jens-Peter Behrend, 73, und sein Nachfolger Lars Georg Vogel, 55, der ab Januar 2020 die Geschicke führt, haben die Ruhe weg. Vogel hat die im Morgendämmer einer Strandbar unter Nachtgestalten aus Ost und West spielende Geschichte mitkonzipiert. Dialoge fallen flach. Der Inhalt transportiert sich ausschließlich über Lieder von Peter Fox, Silly, Gundermann, Hilde Knef oder Nina Hagen bis zu Franz Schubert. Da ist Musike drin.

Der Namen stammt von mittelalterlichen Spielleuten

Im Saal singen sich schon die Spielleute von heute ein. Immer wenn sich die Tür zum kleinen Foyer öffnet, schwappt ein anderer Song herein. Anders als die Theatergründer Horst Behrend und Günter Rutenborn 1949 in der Ruinenstadt, müssen sie nicht mehr in Turnhallen und Kirchen spielen. Auch für die damaligen Vaganten hat sich das Herumziehen schon 1956 erledigt. Da zieht die nach dem fahrenden Volk des Mittelalters benannte freie Truppe in das Charlottenburger Souterrain, wo sie heute noch sitzt. Aus Theatermachern aus dem Koffer werden Kellerkinder. Noch dazu im zweiten Hinterhof. Wobei der von der intimen Nähe zum Publikum profitierende Hundert-Plätze-Saal mit den schwarzen Wänden und rot gepolsterten Stühlen heute einen lauschigen Eindruck macht.

Draußen an der Kantstraße haben sie es so einfach nicht, um Aufmerksamkeit zu buhlen. Da klemmen zwei architektonisch prunkende Amüsierdampfer die leicht zu übersehende Vaganten Bühne ein. Rechterhand knattern am Theater des Westens kreischgelbe Musicalfahnen im Wind. Linkerhand lockt der Delphi Filmpalast mit einem Riesenplakat. Dazwischen führt ein pittoresker Hofgang zum Minitheater, das sich das 1926 von Bernhard Sehring entworfene Haus mit dem Kino, dem Jazzclub „Quasimodo“ und einer Kneipe teilt.

Die Chefs. Jens-Peter Behrend (l.) und sein Nachfolger Lars Georg Vogel, der das Haus ab Januar 2020 führt.
Die Chefs. Jens-Peter Behrend (l.) und sein Nachfolger Lars Georg Vogel, der das Haus ab Januar 2020 führt.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Tappst man bei der in Rekordgeschwindigkeit mit Jens-Peter Behrend absolvierten Theaterführung über die Hinterbühne Richtung Notausgang, blickt man unversehens auf das Hotel Savoy. „Menschen im Hotel“, ein Theaterparcours nach Vicki Baum, der sonntags oft auf dem Spielplan steht (auch heute, 28. April, 20 Uhr), führt genau da hinüber. Und die von Regisseur Lars Georg Vogel inszenierte Adaption von Heinrich Manns „Untertan“ (wieder 2. bis 4. Mai) nutzt das Foyer des Theaters des Westens als Spielstation. Merke: Wer klein ist, muss beweglich sein.

Theatererbe, das ist was Seltenes

Sonst wäre die Vaganten Bühne, die der Kultursenator jährlich mit 400 000 Euro fördert und die bei 210 Vorstellungen im Jahr eine Besucherauslastung von 80 Prozent vermeldet, kaum so alt geworden. Noch dazu als Familienbetrieb mit einem Pool von 40 Schauspielerinnen und Schauspielern, die das aus rund zehn Produktionen bestehende Repertoire bestreiten. Vier bis fünf neue kommen jedes Jahr hinzu. Jens-Peter Behrend, der die Bühne von seinem 1979 verstorbenen Vater Horst übernommen hat, führt sie seit dem Tod seines vor zehn Jahren verstorbenen Bruders Rainer mit einem Team aus sieben Festangestellten.

„Ich bin Theatererbe, das ist was Seltenes“, lächelt der soignierte Herr, der sein Haus zur anstehenden Übergabe bestens bestellt sieht. Trotz einer ersten Karriere als Fernsehfilmregisseur hat der Theaterwissenschaftler mit familiären Wurzeln, die bis in Theater im pommerschen Kolberg und nach Frankfurt am Main reichen, nie am eigenen Haus inszeniert. Das überlässt er lieber Leuten wie dem seit 15 Jahren in Berlin ansässigen Lars Georg Vogel.

Wilde Sechziger. Nachkriegsdrama bei den Vaganten im Jahr 1961 (links der junge Rainer Behrend).
Wilde Sechziger. Nachkriegsdrama bei den Vaganten im Jahr 1961 (links der junge Rainer Behrend).

© Vaganten Bühne

Der hat nach einer Laufbahn an diversen Stadttheatern von Saarbrücken bis Frankfurt am Main vor fünf Jahren begonnen, bei den Vaganten zu inszenieren. Kleists „Michael Kohlhaas“ in reiner Frauenbesetzung. Oder eine Bühnenadaption des lakonischen Roadmovies „Indien“ von Josef Hader und Alfred Dorfer. Im Januar setzt er als Chef dann auch prompt eine eigene Inszenierung auf den Spielplan. „Lehman Brothers“, ein Stück über den Aufstieg und Fall der US-Banker-Dynastie. „Wir wollen ein Theater sein, dass in der Welt von heute steht“, sagt er. Und in der Stadt. Die Berliner Börse stünde schließlich gleich nebenan. Da bietet sich so ein zeitgenössischer Stoff an. Aber auch einen Hebbel oder Sternheim könne er sich hier vorstellen. „Alles außer Boulevard“, sagt sein Vorgänger. „Yasmina Reza ist für mich die Grenze“. Ihr Stück „Drei Mal Leben“ ist im Programm.

Dass die Vaganten nach dem Krieg in der „Periode moralischer Aufrüstung“, wie Behrend es nennt, mit christlichen Erbauungsstücken begonnen haben, ist ihrer Tradition ebenso eingewebt wie der Selbstmord seines zum Christentum konvertierten jüdischen Großvaters im Nationalsozialismus. Da liefe reine Unterhaltung ohne Wertevermittlung dann doch zu stark gegen das hauseigene Ethos.

Immer mehr Premierengäste strömen ins Foyer. Ältere Herrschaften, die die „familiäre Atmosphäre“ loben, viel junges Studentengemüse und gar keine Touristen. Das Berlin-Bild, dass die alsbald ausgiebig beklatschte Revue „Spreeperlen“ (wieder 11. bis 15. Mai) zeichnet, fällt dafür weniger überraschend aus. Dass der Barkeeper schwul ist und zu den letzten Gästen eine Obdachlose und ein gefeuerter Start-up-Angestellter gehören, ist doch eher plakativ. Den Leuten jedoch gefällt’s. Nur darauf kommt es schließlich an. Und wenn am Jahresende die Ära der Theaterfamilie Behrend endet, schlagen die Spielleute ein neues Kapitel auf.

Vaganten Bühne, Kantstr. 12a, komplettes Programm: www.vaganten.de

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