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Stadtansicht mit geflügeltem Löwen von Vittore Carpaccio (um 1500).

© Fondazione MUVE -Venezia, Palazzo Ducale

Venedigs Geschichte: Macht und Masken

Ewig dem Untergang getrotzt: Mit einer prachtvollen Ausstellung im Dogenpalast feiert Venedig seinen 1600. Geburtstag.

Als Gustav von Aschenbach in Thomas Manns Novelle „Der Tod in Venedig“ mit dem Dampfboot in die Lagune einfährt, entfaltet sich vor seinen Augen das Panorama der Serenissima, mit der zum Wasser sich öffnenden Piazzetta, rechts der Dogenpalast in gotischen Formen, links ein prachtvoller Renaissancebau, dahinter der Campanile des Markusdoms, der rechts hinten hervorlugt. Das war 1911 so, als Manns Erzählung veröffentlicht wurde, und ist bis heute der überwältigende Anblick Venedigs von der Wasserseite her. War es je anders?

Venedig war stets bemüht, sein Erscheinungsbild zu erhalten. So wurde der Dogenpalast nach dem verheerenden Brand des Jahres 1577 nicht etwa in damals zeitgemäßen Formen wiederaufgebaut, sondern in den schon 200 Jahre alten der Hochgotik. Und als 1902 der in seinem Ursprung eintausend Jahre alte Campanile zusammenstürzte, wurde er umgehend wiederaufgebaut, originalgetreu mit allen Veränderungen, die er im Laufe der Jahrhunderte erfahren hatte.

Stolz auf Althergebrachtes

Andererseits gab es immer wieder tiefgreifende Erneuerungen. Berühmtestes Beispiel ist die Rialtobrücke, die anstelle einer ungenügenden Holzbrücke errichtet wurde, freilich erst nach einer glatt acht Jahrzehnte dauernden Diskussion im Großen Rat der Republik. Seither aber, seit dem Jahr 1591, ist die steinerne Rialtobrücke ein unverzichtbarer Bestandteil des städtischen Erscheinungsbildes. Die Reihe ließe sich schier endlos fortsetzen; jede Epoche hat etwas zum Stadtbild beigetragen, das anschließend nicht mehr wegzudenken war und ist, einschließlich sogar des Bahnhofs, der erst 1952 fertiggestellt wurde und auf seine Art ein spektakuläres Entree in die Stadt bietet.

„Venedig 1600. Geburten und Wiedergeburten“ ist der Titel einer groß angelegten Ausstellung im Dogenpalast, die die Beständigkeit wie den steten Wandel der Stadt thematisiert. Anlass ist der 1600. Geburtstag der Stadt, der im März gefeiert wurde; coronabedingt findet die Jubiläumsschau mit Verspätung statt. Das Gründungsdatum Venedigs ist spekulativ, niemand weiß, was in jenem Jahr 421 tatsächlich geschah und erst recht am 25. März genau zur Mittagszeit, die die Legende zur Geburtsstunde erklärt. Überhaupt liegen die ersten Jahrhunderte im Dunkel der Geschichte.

Tatsächlich musste sich die Siedlung, geschützt inmitten des Flachwassers der Lagune, gegen eine ganze Reihe ähnlicher Gründungen behaupten, die im zerfallenden römischen Imperium entstanden. Was Venedig wurde, als Stadtrepublik und Handelsmacht, beginnt so recht um die erste Jahrtausendwende herum, was an Spuren blieb, ist nochmals jüngeren Datums.

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Als der Maler Vittore Carpaccio, der in den Jahrzehnten um 1500 eine Fülle getreuer Ansichten der Stadt festhielt, den geflügelten Löwen als Symbol des Heiligen Markus malt, zeigt er im Hintergrund bereits die Silhouette, die Jahrhunderte später Thomas Mann bezauberte, dazu das Hinterland des Veneto, dessen Landwirtschaft für die Ernährung der Stadt wie für den Handel gleichermaßen bedeutsam war. Das beinahe vier Meter breite Gemälde bildet den Auftakt der Ausstellung, die eben nicht mit den bescheidenen Anfängen einsetzt, sondern die ganze Wucht der mächtigen Seerepublik auffährt. Da fällt nicht sogleich ins Auge, dass die im nächsten Saal gezeigten Preziosen, wie ein in Gestalt einer byzantinischen Zentralbau-Kirche geformtes Weihrauchgefäß, tatsächlich Raubgut sind, erobert bei einem der schlimmsten Raubzüge der abendländischen Geschichte, der Besetzung von Byzanz im Jahr 1204, wie übrigens auch die antiken Bronzepferde, die fortan die Balustrade des Markusdoms schmückten. Ein Kreuzzug, vom Dogen listenreich gen Byzanz gelenkt, plünderte die Kaiserstadt, der Venedig selbst einstmals untergeordnet war.

Krieg mit dem Osmanischen Reich

Nun hatten sich die Verhältnisse umgekehrt, und Venedig besaß die Herrschaft über das östliche Mittelmeer. Die Zentrale der venezianischen Seemacht lag im Arsenal, dem gegen Spione hoch gesicherten Schiffbaugelände im Osten der Stadt. Ein detailgenaues Modell einer Galeere lässt ahnen, unter welchen Opfern etwa der bedauernswerten Ruderer die Seeherrschaft mal um mal erobert und befestigt werden musste; und auch wenn das zwei Meter lange Holzmodell jüngeren Datums ist, hat doch die Flotte, wie an den ringsum an den Wänden gezeigten Schlachtenbildern abzulesen, über Jahrhunderte hinweg ihr Aussehen kaum verändert. Ein besonderes Ereignis, immer und immer wieder gefeiert, war der Sieg von Lepanto über die Türken im Jahr 1571 – der gleichwohl Episode blieb, denn das Osmanische Reich behielt, was es den Venezianern Insel für Insel und Stützpunkt für Stützpunkt abnahm.

Umgekehrt veränderte der hochsymbolische Sieg die Republik nicht; sie trieb, im Wechsel mit Kriegen und Scharmützeln, weiterhin beständig Handel mit der osmanischen Macht im Osten. Das rückt denn auch die Ausstellung in den Vordergrund, dass der Handel das eigentliche Metier Venedigs war und blieb, Handel in alle Richtungen und mit allen Mächten. Darin liegt eine der Entdeckungen dieser an Kunstschätzen überreichen Ausstellung: Die Kaufleute, wiewohl von der politischen Herrschaft der Oligarchie ausgeschlossen, bildeten so etwas wie eine bürgerliche Mittelschicht, erstaunlich liberal beispielsweise hinsichtlich der Beziehungen der Geschlechter, die in entsprechenden Bildwerken ehelichen und familiären Miteinanders ihren Ausdruck fanden. Dass die kosmopolitische Bevölkerung einen idealen Nährboden darstellte für neue Ideen, wie der aus dem Norden eindringenden Reformation, dass der Buchdruck ungeachtet aller Zensur blühte wie nirgends sonst im Abendland, auch das zeigt die Ausstellung in aller Fülle.

Doch Venedig, das äußerlich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts kaum noch Änderungen sieht, wird auch im Inneren unbeweglich. Die Stadt gefällt sich in Karneval und Maskenbällen – in der Ausstellung durch historische Kleider anschaulich dargestellt –, aber sie durchleidet auch zwei schwere Pestepidemien, die mit jeweils um die 45 000 Todesopfern ein Viertel der Bevölkerung hinwegraffen. Santa Maria della Salute, die großartige Barockkirche am Eingang des Canal Grande, entsteht in den Jahrzehnten nach der Seuche von 1630; praktischerweise wird daneben auf der Landspitze das Zollamt mit seinen weiten Lagerhallen errichtet.

Napoleons Selbstinszenierung

Für Nicht-Italiener aufschlussreich sind die folgenden Kapitel des opulenten Ausstellungsrundgangs. Sie behandeln einmal die Eroberung der Stadt durch Napoleon, der die historische Kulisse zu pompöser Selbstinszenierung nutzt, zum anderen den Weg der danach habsburgisch gewordenen Stadt zur Einheit des neugeschaffenen Königreichs Italien. Wirtschaftlich bedeutet die Fremdherrschaft den Niedergang, ablesbar am Verkauf zahlloser Kunstschätze und ganzer Palazzi. Venedig wird zum Inbegriff des erhabenen Verfalls, zugleich aber, weniger bekannt, zu einem Zentrum der nationalen Erhebung, gipfelnd in der immerhin 17 Monate währenden Republik von 1848/49. Dass das Risorgimento mancherlei patriotischen Kitsch hervorbrachte, wird nicht verschwiegen, oder sieht es so nur der distanzierte Blick?

[Venedig, Dogenpalast, bis 24. März 2022. Der umfangreicher Katalog in englisch oder italienisch kostet 45 €]

Die Ausstellung zieht vielmehr eine ungebrochene Linie von den letzten künstlerischen Höhen des Rokoko über den Klassizismus des – am Nordrand des Veneto geborenen – Bildhauers Canova bis zum Monumentalgemälde eines Giacomo Casa, „Venedig vereint mit Italien“ von 1861, fünf Jahre vor dem tatsächlichen Vollzug der staatlichen Einheit.

So kommt der Besucher schließlich in der Jetztzeit an, sieht Peggy Guggenheims Privatmuseum und Le Corbusiers Entwurf eines enormen Krankenhauses, sieht die Eventisierung der Stadt mit fortwährenden Biennalen und Filmfestspielen und kann im umfangreichen Katalog ein, gemessen am Widerstand gegen Kreuzfahrtschiffe und Overtourism, allzu freundliches Schlusskapitel lesen. Aber es handelt sich eben um eine Ausstellung zum Geburtstag, und da huldigt man dem Jubilar und übergeht die Schattenseiten seiner Vita.

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