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Veranstaltungsreihe "How German is it?": Zweierlei Zukunft

Bernhard Schulz über deutsche Geschichtserzählungen.

Ungeachtet der winterlichen Kälte waren alle 160 Stühle in der Neuen Nationalgalerie zum Abschluss der 16-teiligen Veranstaltungsreihe „How German is it?“ besetzt. Michael Blumenthal, Direktor des Jüdischen Museums Berlin, und der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, sollten zum Thema „Erinnerung in der Zukunft“ – ja, was? Diskutieren? Gar, wie angedeutet, sich auf das den 20. Juli 1944 streifende Bild „Raum“ von Thomas Demand beziehen, in dessen Ausstellung die Veranstaltung stattfand? Nein. Es gab zwei halbstündige Referate, die sich leider kaum berührten. Zu unterschiedlich sind die Erfahrungs- und Interessenlagen der beiden Redner. Blumenthal als jüdischer Emigrant des Jahres 1939 kann unbeschwert über das heutige Deutschland und die Herausforderung der Zuwanderung sprechen. Schlögel hingegen, dem wir eindringliche Darstellungen osteuropäischer Geschichte verdanken, ist es um eben jenes Ostmitteleuropa zu tun, das den „Hauptschauplatz des Jahrhunderts der Extreme“ bildete, „zwischen den Hauptfronten des europäischen Bürgerkriegs zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus“.

Blumenthal spricht vom Nationalcharakter, vom „nationalen Ethos“, er scheut sich nicht, typische Eigenschaften zu benennen. „Ordnungsliebe bleibt eine deutsche Tugend“, bindet er das Stillhalten unter dem NS-Regime und die Gründlichkeit der Geschichtsaufarbeitung heute zusammen. „Deutschland ist heute ein völlig anderes Land als das meiner Jugend“ – die Blumenthal im Umkreis des Kurfürstendamms verbrachte –, „ein Land, das die Erfahrung der Vergangenheit gründlicher verinnerlicht hat als jedes andere, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen“. Die amerikanische Erfahrung der Integration von Millionen Immigranten hat Blumenthal optimistisch gemacht, und so sieht er auch die Zukunft der Bundesrepublik als Einwanderungsland.

Schlögel betrachtet die „Verwandlung von Erinnerung in Gedächtnis“ als herausragende Leistung einer jeden Kultur. In Europa gibt es jedoch keinen gemeinsamen Erfahrungsraum. Mit jedem historischen Datum sind unterschiedliche Perspektiven verbunden. Es gibt eine Asymmetrie der Erfahrung. „Eine Erinnerung“, so Schlögels Kernsatz mit Blick auf Osteuropa, „die nichts übrig hat für die Opfer des Terrors in der Sowjetunion Stalins, die nicht auch die Insassen des Gulag einschließt, ist in einem bestimmten Sinne selektiv, unglaubwürdig und wenig europäisch.“ Der Weg zu einer „gemeinsamen europäischen Erzählung“ jedenfalls ist noch sehr weit – generationenweit.

Blumenthals Optimismus, Schlögels Skepsis: Beides beruht auf individueller Erfahrung. Sie bleibt die Grundlage, auf der wir Geschichte wahrnehmen und beurteilen. Und zweierlei deutsche Erfahrungen, wie sie an diesem Montagabend aufeinandertrafen, ergeben kein Ganzes, sondern einen Blick aneinander vorbei.

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