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Kultur: Verbrechen und andere Beben

Wider den Wirklichkeitsverlust: Eindrücke vom 34. Saarbrücker Max-Ophüls-Filmfestival.

Die Decke liegt zusammengefaltet auf der Pritsche, und wer sie anfasst, wird vom Wachpersonal verprügelt. So sind die Regeln in Guantanamo. Die Wolldecke ist der Fetisch einer Willkürherrschaft, die die Gefangenen mit allen Mitteln zu brechen versucht. 1725 Tage verbrachte Murat Kurnaz zunächst im afghanischen Kandahar und später im US-Internierungslager Guantanamo in Gefangenschaft. Im Herbst 2001 war der Deutsch-Türke nach Pakistan gereist, wo er eine Koranschule besuchen wollte, und wurde dort von der Polizei als Terrorist per Kopfgeld an den amerikanischen Geheimdienst verkauft. In seinem Spielfilmdebüt „Fünf Jahre Leben“, das beim diesjährigen Filmfestival „Max Ophüls Preis“ Premiere hatte, erzählt Regisseur Stefan Schaller die Geschehnisse konsequent aus der Innenperspektive des Gefangenen, der misshandelt und gefoltert wurde und sich dennoch weigerte zu gestehen, was er nicht getan hatte.

Schaller macht aus Kurnaz’ Leidensgeschichte kein heldenhaftes Martyrium; auch die tagespolitischen Implikationen des Falles, der Gegenstand zahlreicher Medienberichte, Untersuchungsausschüsse und Gerichtsverfahren war, lässt er weitgehend außen vor. Stattdessen konzentriert er sich auf das System Guantanamo, zeigt die Bandbreite perfider Verhörmethoden und verweist vor allem auf das komplexe Abhängigkeitsverhältnis zwischen Gefangenem und Vernehmendem, der ein Geständnis braucht, um das eigene Tun zu rechtfertigen.

„Fünf Jahre Leben“ gehörte zu den eindringlichsten Filmen eines starken Festivaljahrgangs, der demonstrierte, dass die jungen Regisseure und Drehbuchautoren ihre Figuren und Geschichten fest im Fokus halten. Das gilt vor allem für das österreichische Kino, dessen Nachwuchsfilmemacher an den Werken Michael Hanekes oder Ulrich Seidls geschult wurden.

Wie im letzten Jahr ging der Hauptpreis der Jury an eine Produktion aus der Alpenrepublik. In ihrem halbdokumentarischen Spielfilm „Der Glanz des Tages“ führen Tizza Covi und Rainer Frimmel die Lebenswelten des viel beschäftigten Schauspielers Philipp Hochmair und des Zirkusartisten Walter Saabel in einer Familiengeschichte zusammen. An den Biografien der Darsteller orientiert und ohne festes Drehbuch durch Improvisation erarbeitet, entsteht hier auf der Leinwand ein stimulierendes Doppelporträt, in dem sich die Wirklichkeitsverluste des Schauspielers und die bodenständigen Lebenserfahrung des alten Bärendompteurs aneinander reiben. Auch der mit 11 000 Euro dotierte Preis des saarländischen Ministerpräsidenten ging verdientermaßen nach Österreich: an Katharina Mücksteins „Talea“. Behutsam und in einer wunderbar klaren Bildsprache erzählt der Film vom Annäherungsprozess eines 15-jährigen Mädchens an ihre Mutter (Nina Proll), die seit der Geburt der Tochter im Gefängnis saß und nun neu im Leben Fuß zu fassen versucht.

Verbrechen und die Untersuchung ihrer traumatischen Nachbeben waren der narrative Ausgangspunkt vieler Filme dieses Festivals. In Bettina Blümners „Scherbenpark“, der den Drehbuchpreis über 13 000 Euro erhielt, sucht die 17-jährige Sascha (Jasna Fritzi Bauer – Preis für die beste Darstellerin) nach dem Mord des Stiefvaters an ihrer Mutter einen Zugang zum Leben. Thomas Siebens „Staudamm“ spürt den Folgen eines Amoklaufs in einer bayrischen Gemeinde nach. Florian Eichingers „Nordstrand“ erzählt von den Konflikten zweier erwachsener Brüder, deren Kindheit von den Misshandlungen des Vaters geprägt war.

In den letzten Jahren haben die Festivalleiter Gabriella Bandel und Philipp Bräuer bei der Gestaltung des Wettbewerbs stets auch die Vielfalt des jungen deutschsprachigen Kinos demonstriert. Dieses Mal reichte das Spektrum von Philippe Weibels Low-Budget-Horrorfilm „Trapped“ über Tom Lass’ Beziehungskrisendrama „Kaptn Oskar“ bis zu der fabelhaften Film-im-Film-Komödie „Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel“ (Publikumspreis). Hier versucht ein Filmteam, dem die Produktionsmittel gestrichen wurden, mit einem Ochsen als Pferdeersatz und einer Menge Improvisationsvermögen Kleists „Michael Kohlhaas“ zu verfilmen – eine hinreißend komische Liebeserklärung ans Filmemachen, in der Fantasie und Enthusiasmus als treibende Kräfte beschworen werden.

Ein Filmfestival lässt sich damit allein jedoch nicht bestreiten. Darauf verwies der österreichische Filmemacher Markus Schlenzer. Als Jury-Mitglied forderte er eine längst überfällige Aufstockung des Festivaletats und betonte die Bedeutung des Saarbrücker Festivals für das Herausbilden und Bewahren einer cineastischen Identität im deutschsprachigen Kino.

Dass Filme, die ihre künstlerische Identität gegen den globalen Mainstream verteidigen, auch im internationalen Maßstab konkurrenzfähig sind, haben die österreichischen Festivalerfolge der letzten Jahre in Cannes und Venedig hinreichend belegt. Davon könnte das deutsche Kino und vor allem die hiesige Filmförderung noch einiges lernen.

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