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Verbrecher JAGD: Wahrheiten für Wutbürger

Es ist eine echte Erfolgsgeschichte aus dem deutschen Mittelstand. Nele Neuhaus, Jahrgang 1967, ist mit dem Besitzer einer Fleischfabrik in Kelkheim im Taunus verheiratet.

Es ist eine echte Erfolgsgeschichte aus dem deutschen Mittelstand. Nele Neuhaus, Jahrgang 1967, ist mit dem Besitzer einer Fleischfabrik in Kelkheim im Taunus verheiratet. Tagsüber hilft sie in der Firma aus, abends widmet sie sich ihrem Hobby: Sie schreibt. Irgendwann spuckt ihr Drucker ein 1000-Seiten-Manuskript aus, einen Krimi über eine deutsche Investmentbankerin in New York. Von den Verlagen bekommt Nele Neuhaus nur Absagen, also veröffentlicht sie „Unter Haien“ 2005 schließlich als Book-on-Demand. Die Frau des Fleischfabrikanten wird zur Unternehmerin in eigener Sache: Sie organisiert Lesungen, klappert Buchhandlungen ab, versucht Kontakte zur Presse herzustellen – und setzt in kurzer Zeit tatsächlich 500 Exemplare ihres Debüts ab.

Nele Neuhaus macht weiter. Ihr nächster Krimi „Eine unbeliebte Frau“ spielt im Taunus, im Mittelpunkt steht das Ermittlerduo Oliver von Bodenstein und Pia Kirchhoff, kurz darauf erscheint der Folgeband „Mordsfreunde“. Es sind dicke, ausgesprochen konventionelle und stellenweise arg langatmige Polizeiromane – die sich allerdings verkaufen wie frisch marinierte Nackensteaks zur Grillsaison. 10 000 Exemplare setzt Nele Neuhaus allein von „Mordsfreunde“ ab. Ullstein nimmt den Titel daraufhin ins Programm und sichert sich auch gleich die Rechte am nächsten Band. „Tiefe Wunden“ landet auf der „Spiegel“-Bestsellerliste, und spätestens seit dem vierten Bodenstein-Kirchhoff-Krimi „Schneewittchen muss sterben“ gehört die Selfmade-Frau aus der Provinz mit ihren ziegelsteinschweren Paperbacks zu den meistgelesenen Thriller-Autoren Deutschlands.

Aber warum haben diese schwerfälligen und viel zu langen Regional-Krimis so einen Erfolg? Ganz offensichtlich besitzt Nele Neuhaus ein Gespür für Themen. „Unter Haien“ erzählte lange vor der Finanzkrise von den Abgründen des Investment Bankings, in „Tiefe Wunden“ ging es um den Umgang der Enkelgeneration mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland – und der Ausgangspunkt für ihren neuen Roman „Wer Wind sät“ (Ullstein, Berlin 2011, 558 Seiten, 14,99 Euro) ist ein zeitgemäßer Streit um einen geplanten Windpark im Taunus: auf der einen Seite geldgierige Investoren und korrupte Politiker, auf der anderen Seite gut organisierte Wutbürger. Der Konflikt gerät außer Kontrolle, und als der Vorsitzende der Anti-Windpark-Initiative ermordet wird, kommen wieder einmal Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein vom K11 in Hofheim ins Spiel.

Die Liste der Verdächtigen ist lang: der zynische Betreiber des Windparks, ein cholerischer Naturschützer, die enttäuschte Nachwuchswissenschaftlerin eines Klimainstituts. Die Ermittler müssen sich nicht nur mit Schmauch- und DNA-Spuren beschäftigen, sondern auch mit der verführerischen Verschwörungstheorie, nach der die vermeintlich gut gemeinten Warnungen vor den CO2-Emissionen in erster Linie das Geschäft mit der nachhaltigen Energie befördern soll. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll“, seufzt Kommissar Oliver von Bodenstein in „Wer Wind sät“. Dieser Satz könnte auch in allen anderen Romanen von Nele Neumann fallen. Ihre auf den ersten Blick biederen Heimat-Thriller erzählen vom epidemischen Vertrauensverlust in unserer Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts: vom Unbehagen gegenüber dem Turbokapitalismus, vom schwindenden Glauben an die Wahrheiten über die Zeit des Nationalsozialismus – und zuletzt eben vom Zweifel an der These von der Erderwärmung.

Und Nele Neuhaus macht es ganz klassisch. Sie bricht die globale Verunsicherung und grassierende Hilflosigkeit ins Seelenleben ihrer orientierungslosen Ermittler herunter. Bodenstein und Kirchhoff hadern in langen Passagen mit ihrem Beruf, beobachten ängstlich das eigene Beziehungsleben und zweifeln immer wieder an ihrer Liebesfähigkeit. Der Kriminalfall ist nur Beiwerk. „Was soll ich nur machen?“, das ist die Frage, um die es eigentlich geht. Es sind diese endlos langen inneren Monologe, in denen der Polizist und die Polizistin sich genüsslich selbst zerfleischen, die Neuhaus“ Romane regelmäßig die 600-Seiten-Grenze überschreiten lassen – und die sie offenbar so verdammt attraktiv machen. Ratlos sind wir heute schließlich alle.

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