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Cover des Romans

© Promo

Verena Luekens Roman „Alles zählt“: Überleben mit Sätzen

In Verena Luekens „Alles zählt“ erhält die Protagonistin die Diagnose Lungenkrebs und setzt sich mit dem Sterben auseinander. Dabei hilft ihr die Literatur.

New York im Sommer. "Beißendes Licht, brüllende Hitze, eine erbärmliche Zeit um zu sterben.“ Die Protagonistin in Verena Luekens Debütroman „Alles zählt“ liest diesen Satz, den James Salter in „Lichtjahre“ schrieb, und begreift sofort, dass sie gemeint ist: Während einer Auszeit am Hudson wird sie zum dritten Mal mit der Diagnose Lungenkrebs konfrontiert. Wie zuvor ist New York der Ort, an dem sie operiert werden soll. Sie überlebt, ist in Sicherheit, „wenn auch nur provisorisch“. Doch zurück in Frankfurt fühlt sie sich nicht heimisch und bricht auf nach Myanmar.

Krankheit und Schmerzen beschreibt Lueken in einer unprätentiösen Sprache, die für all das Namenlose, was im Körper der nur als „sie“ in der dritten Person auftretenden Protagonistin vorgeht, konkrete Bilder findet. Geschwister und Lebenspartner erscheinen dagegen mit ihren Initialen. Dies schafft Abstand und Authentizität zugleich: Die Abkürzungen lesen sich, als wollten sie die Privatsphäre tatsächlicher Personen schützen. Tatsächlich gibt es Parallelen zwischen Hauptfigur und Autorin: Verena Lueken, heute Filmredakteurin der „FAZ“, arbeitete viele Jahre als Kultur-Korrespondentin in New York. Auch ihre Heldin ist leidenschaftliche New Yorkerin und verdient ihren Unterhalt mit Schreiben.

Ihr Personal zeichnet Lueken mit sparsamer Anschaulichkeit: Die behandelnde Chirurgin ist eine Frau „ohne Charisma“, aber mit „eisernen Händen“, ein Verwandter („Onkel Buddha“) sieht auch im Sommer aus „wie ein Schneemann im Anzug“. Die Protagonistin ist eine gebildete Frau, doch was sie an Zitaten und Bildern aus Literatur und Film mit sich herumträgt, ist kein bildungsbürgerlicher Ballast. Es ist ein rettendes Reservoir von Momenten, an denen sie sich in der Krankheit festhält. Dazu kommen die Sätze aus Büchern über das Sterben, geschrieben von Männern. Die meisten von ihnen bereits gestorben, viele an Krebs. „Und der Satz bleibt ein Massiv, solange auch nur eine sich an ihn erinnert“, heißt es einmal. Die Autoren, deren Sätze sie zitiert, nennt sie beim Vornamen.

Auch das Nebensächliche ist wichtig

Der Titel „Alles zählt“ ist Programm. Was immer der Protagonistin begegnet, ist erzählens- und beschreibenswert. Die Gedanken zersplittern vor allem in Phasen von Schmerz und Betäubung. Das Ganze ist aus zahlreichen Rück- und Vorblenden konstruiert. Der Roman greift zurück auf die Familiengeschichte, die Kindheit mit mehreren Vätern. Besonders das Verhältnis zur Mutter, einer eigenwilligen und ungewöhnlichen Frau, ist von großer Zuneigung bestimmt. Manche Erinnerungssplitter tauchen leitmotivisch immer wieder auf. Lose eingewoben ist aber auch das Zeitgeschehen: das Trauma des 11. September, der Horror in Syrien, der Hausarrest Aung San Suu Kyis

Alles ist wichtig, auch das scheinbar Nebensächliche. So entsteht eine „Nummernrevue von Ereignissen und Eindrücken“ voller kluger Gedanken. Eine ganz besondere Rolle spielen Menschen, für die Literatur Bedeutung hat: zum Beispiel die Freundin und Autorin Ellen. Sie ist die Witwe von Harold Brodkey, der in den 1990er Jahren an Aids starb und seine tödliche Krankheit in dem Essayband „Die Geschichte meines Sterbens“ verarbeitete. Oder Nan Naing, Arzt in Myanmar, mit seiner „Leidenschaft für die Bücher schwuler Dandys mit Stil und Charakter“. Das Große und das Kleine, das Zentrale und das Marginale, das Wirkliche und das Erfundene: Alles hat seine Bedeutung.

Verena Lueken: Alles zählt. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015. 208 Seiten, 18,99 €.

Anja Beisiegel

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