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Kultur: Vergangenes kehrt immer wieder

Claude Lanzmanns neuer Film in Cannes.

Das Festival von Cannes ist ein vielgesichtiges Wesen, multitasking, multitalking. Manchmal aber zeigt es seinen eigentlichen Januskopf. Hier massenweise Filmfans, die ihr Last-Minute-Ticket für den Festival-Hit „Inside Llewin Davis“ von den Coen-Brüdern erhaschen wollen. Dort Cineasten, die zu „Le dernier des injustes“ drängen, dem neuesten Dreieinhalbstundenfilm von Claude Lanzmann.

Was haben die erfundenen Tage des New Yorker Folkmusikers im Winter 1961, der von Niederlage zu Niederlage eilt, mit jener realen Woche zu tun, die der große Dokumentarist mit Benjamin Murmelstein 1975 in Rom verbrachte, dem letzten Judenältesten des Lagers Theresienstadt? Nichts als die zeitgleiche Vorführung in den zwei größten Sälen des Festivalpalasts. Hier geht einer so langsam wie unterhaltsam unter, weil ein Drehbuch es so will, dort hat einer in der realen Erdenhölle den Kopf aus der Schlinge gezogen und spricht über sein Leben. Oder besser: um sein Leben. Murmelstein, den Lanzmann schon für „Shoah“ interviewte und dann doch aus jenem Film herausließ, in dem die eindeutigen Täter und Opfer zu Wort kamen, plagt weniger das Überleben selbst als die unabstreifbare Zwischenrolle, die er von 1938 bis 1945 einnahm. Als Rabbiner in Wien hatte er im Auftrag von Adolf Eichmann zunächst tatkräftig die Auswanderung von Juden organisiert. Er diente den Nazis auch noch in den letzten Kriegsmonaten im Vorzeigelager Theresienstadt, als Nachfolger zweier Judenältester, die von der SS ermordet worden waren. Von den Tschechen wurde er später freigesprochen, nach Israel aber ist er zeitlebens nie gereist.

„Le dernier des injustes“, worin der über 80-jährige Lanzmann auch Orte in Theresienstadt abschreitet und mit seiner wuchtigen Stimme plastisch erklärt, ist ein einzigartiges Dokument. Nicht nur weil Murmelstein mit ungeheuer präzisem Gedächtnis den Blick auf Adolf Eichmann neu schärft – nicht als den „banalen Bösen“ im Sinne Hannah Arendts, sondern als fanatischen, auch zur Waffe greifenden Gewalttäter. Sondern weil dieser hochintelligente Zeitzeuge und zutiefst gemischte Charakter, der „Macht in der Ohnmacht“ ausübte, mit luzider Distanz über sich selber spricht.

Es ist die Verteidigungsrede eines, der mit sich selbst längst abgerechnet hat. Zugleich besteht er darauf, mit der Aufrechterhaltung der „Lüge“ Theresienstadt den entkräfteten Insassen, die er noch kurz vor Kriegsende zu der von den Deutschen angeordneten „Stadtverschönerung“ zwang, Schutz geboten zu haben. Immer wieder fragt Lanzmann unbequem in die Satzkaskaden seines Gegenübers hinein, und immer hat Murmelstein eine verblüffend schlüssige Antwort. Wer wollte ihm widersprechen: „Verurteilen kann man mich, aber urteilen über mich kann man nicht.“

Eine nicht weniger eindringliche, doch leisere Trauerarbeit präsentiert der Kambodschaner Rithy Panh in „The Missing Picture“. Der Dokumentarist, der als Jugendlicher seine gesamte Familie verlor und selber Massengräber zuschütten musste, stellt mit Tonfiguren teils autobiografische Panoramen des Schreckens nach. Und er sagt: „In der Mitte des Lebens kehrt die Kindheit zurück, sanft und bitter.“ Jan Schulz-Ojala

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