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Kultur: Vergesst den Luther nicht!

Eine

von Marius Meller

Der reformatorische Kernsatz sola scriptura (allein durch die Schrift) bedeutet: Niemand soll dem Christenmenschen vorschreiben, wie die Bibel auszulegen sei, um das Seelenheil zu erlangen. Er soll selbst lesen, verstehen, urteilen, glauben. Dieser Satz war gegen die katholische Kirche und ihr Dogma gerichtet, und seine Voraussetzung waren zwei Dinge: die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache und der Buchdruck. Diese Individualisierung des Bibellesens bedeutete einen ungeheuren Modernisierungsschub, den die einen begrüßten, die anderen bitter beklagten. Denn wo eine Wahrheit war, sind nach Luther viele Wahrheiten.

Nun hat sich der Rat der Evangelischen Kirche aus dem ökumenischen Projekt der Einheitsübersetzung der Bibel zurückgezogen, weil die Katholen auf „ihrer Sprache“ beharrten und die Evangelen auf ihrem ehrwürdigen Solascriptura-Prinzip. Der Modernisierungsgegner, der von der Rückkehr zur allumfassenden Kirche träumt, wird das bedauern. Der liberale, religiös aufgeschlossene Skeptiker wird es begrüßen. Wenn sich die „Rückkehr des Religiösen“ nur im Schwärmen für die einfache Wahrheit des Papstes angesichts unserer verwirrenden, pluralistischen Lebenswelt manifestiert, sind wir flugs wieder im Mittelalter. Ein zentraler Wert unserer Kultur – den wir erst wieder schätzen lernen müssen, um ihn zu verteidigen – ist der Individualismus in Glaubensdingen: Auch in christo gibt es viele Wahrheiten und nicht nur eine. Dass dieser hohe Wert – den Ratzinger als „Relativismus“ schmäht – auf Luther zurückgeht, ist nur wenigen bewusst.

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