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Kultur: Vergiss es!

Manfred Ostens Essay „Das geraubte Gedächtnis“

Weniges ist so übel beleumundet wie das Vergessen. Wer dauernd etwas vergisst, ist angehalten, diesem Missstand vorzubeugen, schließlich beruht die westliche Kultur auf der Vorstellung möglichst weitgehender Verfügbarkeit all dessen, was besessen, erlebt und gedacht wurde. Das Bild von der Bibliothek als Speicher des Wissens, die Hochschätzung eines guten Gedächtnisses, nützliche Hinweise der Mnemotechnik – das alles sind nur einige Beispiele aus dem Arsenal kulturell gebotener Vergessensvermeidung.

Andererseits muss der Gedächtnisfreund immer wieder Irritationen verarbeiten. In seinem Buch „Das geraubte Gedächtnis“ erzählt Manfred Osten die Geschichte aus Platons Dialog „Phaidros“, derzufolge der König Thamus einst die Erfindung der Schrift mit den Worten kommentierte, von nun an würden die Menschen vergesslicher werden. Statt auf ihr Gedächtnis würden sich alle nunmehr, mit heutigen Worten gesagt, auf das externe Speichermedium verlassen.

Nach Manfred Osten ist das Vergessen nicht nur unvermeidlich. Es kann sogar eine positive Dimension enthalten. Osten geht nicht so weit wie Niklas Luhmann, der im Vergessen die „Hauptfunktion des Gedächtnisses“ sastem, das andernfalls unter der Last der vorhandenen Informationen kollabieren müsste. Aber Osten formuliert den Anspruch, die starre, wertbeladene Gegenüberstellung von Gedächtnis und Vergessen zu überwinden und ein dialektisches Verhältnis beider zu etablieren.

Luhmanns Systemtheorie trägt dem Umstand Rechnung, dass in den heutigen Informationsgesellschaften eine übermächtige Dominanz von Erinnerungs- und Gedächtnisfunktionen den Einzelnen wie die Gesellschaft überfordern würde. Die Anzahl gleichzeitig verfügbarer Informationen übersteigt heute die Möglichkeiten eines jeden Speichermediums. In seinem Buch präsentiert Osten eine Vielzahl von Beispielen, die die weit verbreitete Meinung widerlegen, mit der digitalen Technik seien der Speicherung des verfügbaren Wissens keine Grenzen mehr gesetzt. Vor allem das Veralten der jeweiligen Medien stellt die Archivare vor unlösbare Aufgaben. Die Magnetbänder, Disketten und CD-Roms sind nur begrenzt vertrauenswürdig. Garantiert wird von Experten allenfalls eine Haltbarkeit von zehn Jahren. Die Informationen müssten also regelmäßig umkopiert werden. Angesichts der Menge des gespeicherten Materials wäre dies nichts anderes als ein gigantisches ABM-Programm, das allerdings niemand zu finanzieren bereit ist. Die BBC hat bereits den unwiderruflichen Verlust einer großen Menge an Aufzeichnungen annonciert.

Nötig wäre also eine ars oblivionalis, eine Kunst des Vergessens, als Entscheidungshilfe, was aufbewahrt oder gelöscht werden soll. Manfred Osten steht zwar letztlich auf Seiten der Gedächtnisapologeten, denen Vergessen hauptsächlich ein Verlust bedeh, unentbehrlich für jedes Funktionssyutet. Er hat Bücher über Goethe und Alexander von Humboldt geschrieben und insistiert auf dem Bewahren des kulturellen Erbes. Aber sein Buch belegt deutlich, dass das lange Zeit schmählich diskreditierte Vergessen gegenüber dem Erinnern zwar nicht gleichgezogen, aber immerhin beträchtlich aufgeholt hat.

— Manfred Osten:

Das geraubte

Gedächtnis. Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 126 S., 14,80 €.

Mario Scalla

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