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Kultur: Vergiss nicht. Vergesst

Der letzte Zeuge: Harald Welzer plädiert für eine neue deutsche Erinnerungskultur.

Vor einigen Wochen wurden bei der „Tagesschau“ um 20 Uhr Opfer und Täter des „Dritten Reichs“ vertauscht: In einem Bericht über die Verhaftung des mutmaßlichen Nazi-Verbrechers Lászlo Csatáry wurde nicht sein Bild eingeblendet, sondern das des Holocaust-Überlebenden und inzwischen verstorbenen Nazi-Jägers Simon Wiesenthal. Die Verwechslung, auch wenn es nur ein Versehen gewesen ist, passt in die Zeit.

„Die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust wird kalt. Heiß war sie, solange der lebendige generationelle Zusammenhang in ihre Zeit zurückreichte, als es noch Opas gab, die Wehrmachtssoldaten, SS-Männer, Parteimitglieder oder aber Gegner, Verfolgte oder Opfer waren“, schreibt Harald Welzer in seinem Buch zur „Renovierung der Deutschen Erinnerungskultur“. Wer von der Historisierung des Holocaust sprach, setzte sich lange dem Verdacht aus, diesen Prozess bewusst vorantreiben zu wollen. Auch Martin Broszat, der 1985 im „Merkur“ ein „Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus“ veröffentlicht hatte, musste sich noch mit dem Relativierungsvorwurf auseinandersetzen. Die Erinnerung sollte am Leben gehalten werden und nicht vergehen. Doch gerade das, schreibt Welzer, erweist sich nun als aufklärerisches Versäumnis. Sich nicht den Anforderungen zu stellen, die eine Historisierung von Nationalsozialismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg mit sich bringt, sei eine „erinnerungspolitische Bankrotterklärung“. Aus seiner Sicht geht es nicht mehr darum, wie aktuell wir die Vergangenheit gestalten, sondern wie wir die Vergangenheit für die Gegenwart retten können.

An dieser Entwicklung ist die Geschichtswissenschaft nicht unschuldig. Der Zeitzeuge scheint dem Historiker in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den Rang abgelaufen zu haben. Der Zeitzeuge war vor allem seit den 80er Jahren die Antwort auf die ersten Anzeichen einer Historisierung des „Dritten Reichs“: als authentischer Mittler zwischen heute und damals. In dem Zeitzeugen, schreibt Martin Sabrow in einem Sammelband, der die erinnerungspolitische Rolle des Zeitzeugen nach 1945 im Detail nachvollzieht, „versicherte sich die Jetztzeit ihres unmittelbaren Zugangs zur Vergangenheit“. Die historische Fachwissenschaft, meint Sabrow, hat seitdem „keine privilegierte Deutungsmacht mehr“.

Die Betonung der Zeitzeugenschaft ist nicht zuletzt Folge einer alternden Gesellschaft, in der die lebhafte Jahrgangskohorte der Kriegsteilnehmer den historischen Diskurs noch immer prägt – wie etwa die Debatte um die Wehrmachtsausstellung. Auch Günter Grass betonte in einem Interview nach der Veröffentlichung seines Gedichts „Was gesagt werden muss“, dass ihn besonders entsetzt habe, „wie 30-,35- und 40-jährige Journalisten, die das Glück gehabt haben, in einer langen Friedensperiode aufzuwachsen, über einen Mann urteilen, der im Alter von 17 Jahren in die Waffen-SS gezogen wurde“. Wer die Vergangenheit nicht erlebt hat, so offenbar sein Argument, darf die Gegenwart nicht deuten.

Andererseits, schreibt Sabrow, ist die Zeitzeugenkonjunktur auch Ausdruck einer „Charismatisierung von historischer Nähe und historischer Unmittelbarkeit“. Diese kulturelle Sehnsucht nach Authentizität ist das Geheimnis hinter der Autorität des Zeitzeugen; sie befördert die vielfältigen Projekte, die die Erinnerung dokumentarisch festzuhalten suchen – von Steven Spielberg bis dem Zeitzeugenprojekt des ZDF. Sie ist gleichzeitig die Erklärung für den Erfolg der Fernsehsendungen von Guido Knopp oder von Büchern wie das des Hitler-Telefonisten Rochus Misch („Der letzte Zeuge“).

Der Zeitzeuge, der die historische Meistererzählung herausfordert, galt einst als Lieferant einer vermeintlich demokratischen, ungefilterten Perspektive. Nun liefert er selbst die Hauptversion, in der es, je länger das Geschehen zurückliegt, zu einer merkwürdigen Gemeinschaft der Beteiligten kommt – zu einer „verschwimmenden Differenz von Täter- und Opferwelt“ (Sabrow). Wird die Zeitzeugenschaft zum einzigen Kriterium erhoben, werden Nazi-Täter und Nazi-Opfer, wie bei der „Tagesschau“ geschehen, verwechselbar: Sie waren ja beide damals irgendwie dabei.

Doch eine Erinnerungskultur, die sich so stark von Zeitzeugen abhängig gemacht hat, muss zwangsläufig in die Krise geraten: wenn die Ära der Zeitzeugenschaft nämlich an ihr Ende kommt. Das Land pflegt „einen Erinnerungswahn, der pathologisch ist“, meint Henryk M. Broder. Doch vermutlich ist dieser „Erinnerungswahn“ nicht anderes als der Versuch, den vertrauten Zustand der Zeitzeugenschaft zu verlängern. Er ist getragen von der Angst, ohne diese Vergangenheit mit einer Leere konfrontiert zu sein. Von Nazis ist deshalb oft die Rede und nicht von Neonazis, damit die vertraute Vergangenheit möglichst auch sprachlich noch in die Gegenwart hineinreicht. „Fragile Identität“, schreibt Welzer, „braucht historische Vergewisserung.“ Diese Vergewisserung hat nicht zuletzt der Zeitzeuge möglich gemacht, indem er eine lebendige Verbindung zur Vergangenheit hergestellt hat.

Der Beginn der kalten Erinnerung bedeutet eine dramatische Zäsur für den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Vor allem, weil sie zusammenfällt mit dem europapolitischen Impuls, auch die Vergangenheit zu entnationalisieren. Als Grundidee für eine europäische Staatengemeinschaft mag es ausreichen, die Katastrophen der Vergangenheit überwinden zu wollen; identitätsstiftend ist das nicht. Ein Europa, das seine gemeinsame Geschichte ideologisch begründen muss, deutet auch den Zweiten Weltkrieg als europäische Katastrophe. Der Holocaust, traditionell als Zivilisationsbruch verstanden, steht diesem europäischen Narrativ im Weg. Der Vorschlag, aus dem ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald ein Unesco-Weltkulturerbe zu machen, ist also in diesem Sinne zeitgemäß: Das KZ wird in die globale Verantwortung übergeben.

„Vergesst Auschwitz!“, lautet Broders Rat. „Vergiss nicht! Niemals“, schrieb Joachim Gauck bei seinem Israel-Besuch vor wenigen Wochen in das Gästebuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Noch vor wenigen Jahren hätte man das als moralischen Appell verstanden, die Vergangenheit nicht zu verdrängen oder zu leugnen, sondern sich ihr zu stellen. Heute muss man den Satz wörtlicher nehmen. Doch was heißt es heute, die Vergangenheit nicht zu vergessen, wenn sich der Rahmen, in dem die Erinnerung vor allem stattgefunden hat, fundamental verändert? Was bedeutet Nichtvergessen, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, wenn die Vergangenheit „europäisch“ sein soll, wenn es Einwanderer gibt, die sich an eine ganz andere Vergangenheit erinnern?

„Irgendwann aber geht es nicht mehr um den geliebten Opa, der als jemand wahrgenommen wird, der moralisch versagte, weil er sich anpasste und durchkommen, überleben wollte“, schreibt Peter Steinbach in dem Band „Geschichte im politischen Kampf“. Dieses Irgendwann rückt näher, und es zeigt sich, dass die deutsche Erinnerungskultur darauf schlecht vorbereitet ist. Denn die Lücke, meint Welzer, lasse sich durch den Einsatz von Videos, die Erzähler und Erzählerinnen zeigen, nicht schließen.

„Vieles an der geschichts- und erinnerungskulturellen Praxis ist schal geworden, petrifiziert, inhaltsleer – und zwar exakt wegen ihrer Vergangenheitsfixierung“, schreibt Welzer und fordert, „die erinnerungskulturelle Perspektive neu zu justieren: nämlich auf die Art und Weise, wie eine moderne Gesellschaft des christlich-abendländischen Kulturkreises sich in kürzester Zeit in eine Ausgrenzungsgesellschaft verwandelt hat.“

Auch Broder plädiert dafür, sich stärker auf die Gegenwart zu konzentrieren: „Ich finde es vollkommen absurd, dass jedes Jahr Abertausende von jungen Deutschen durch die Konzentrationslager geschleust werden. Sie sollten besser lernen, dass und warum die Juden ein Recht auf einen eigenen Staat haben.“

Das heißt nicht weniger als die Loslösung von einer vornehmlich moralischen Deutung der Vergangenheit hin zu einer politischen, die abstrakter und allgemeingültiger ist, weniger persönlich, und letztlich auch weniger deutsch. Es ist, wie Welzer schreibt, das Ende einer Erinnerungskultur, die sowohl Fakten vermitteln will als auch eine moralische Lesart dieser Fakten. Es ist der Anfang einer Erinnerungskultur, die versteht, dass sich die Historisierung des Nationalsozialismus und des „Dritten Reichs“ nicht aufhalten lässt, und die sich dieser Herausforderung stellt. Moritz Schuller

Dana Giesecke, Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur. Edition Körber Stiftung, Hamburg 2012. 187 Seiten, 15 Euro.

Martin Sabrow, Norbert Frei (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 376 Seiten, 34,90 Euro.

Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage. Knaus Verlag, München 2012. 176 Seiten, 16,99 Euro.

Peter Steinbach: Geschichte im politischen Kampf. Dietz Verlag, Bonn 2012. 161 Seiten, 16,90 Euro.

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