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Kultur: Verklärte Nacht

Der Anschlagsalchimist: Ivo Pogorelich in Berlin

Es liegt eine Magie über letzten Tönen. Jedes Verklingen, egal ob in triumphalem Fortissimo oder in einem kaum mehr wahrnehmbaren Diskantschimmer, ist ein eigener Abschied. Janusköpfige Noten und Tonbündel, in denen sich Erlebtes spiegelt, die aber auch hinausführen aus dem hermetischen Klangraum eines Werks. Wohl kein Pianist hat die Kunst des Abschieds so perfektioniert wie Ivo Pogorelich. Schier endlos lässt der Anschlagsalchimist bei seinem Soloabend in der Philharmonie die Schlusstöne zweier Chopin-Nocturnes ausklingen, verwischt in unendlich kunstvollem fade- out die Grenze zwischen Ton und Stille.

Es sind diese Schwebezustände versiegender Klänge, an denen sich die Kunst Pogorelichs am deutlichsten offenbart: Mit stilistischer Differenzierung, mit der getreuen Umsetzung eines Notentexts hat dieses Klavierspiel nichts mehr zu tun, Werke, ob von Chopin, Skriabin oder Rachmaninow, sind nurmehr Stationen einer einsamen Reise durch die Nacht. Doch Pogorelich zeigt, dass man sich vor dieser Nacht und ihrer Einsamkeit nicht fürchten muss: Weich scheint sie schon die fragmentierten Stimmverläufe der Nocturnes zu umfangen, füllt als tragendes Element die Zäsuren, mit denen der 47-Jährige die glamouröse Oberfläche der zweiten RachmaninowSonate aufbricht. Anfechtungen bleiben Episode: Das diabolische Sprungmotiv etwa, das im Bass von Skriabins vierter Sonate Unruhe stiftet, geht in der gleißenden Läuterung der Schlusstakte auf – ein Sieg des Lichts, das freilich die umgebende Nacht braucht, um scheinen zu können. Fast scheint es, als ob diese Verschmelzung von Ton und Stille das eigentliche Ziel des Abends ist: Wenn sich zwischen zwei Noten nur noch eine hauchdünne Klangbrücke spannt, wenn die Musik, wie im Scherzo von Chopins dritter Sonate, zum Stillstand kommt, wenn die scheinbar massiv geschichteten Stimmen im Kopfsatz der Rachmaninow-Sonate plötzlich zu einem frappierend transparenten Gewirk aus aufleuchtenden und verglimmenden Fäden werden. Wenn Diskantnoten klingen, als seien sie vom Himmel gefallen, aber im Entstehen schon wieder in Auflösung begriffen sind. Wenn in jedem einzelnen Ton ein Abschied liegt. Und eine Hoffnung.

Jörg Königsdorf

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