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Kultur: Verlangen in Erlangen

Fränkische Gelassenheit und russische Obsessionen: das 23. Poetenfest

Bücher, in denen kein Wetter vorkommt, interessieren Peter Kurzeck nicht. Ein Buch, zwischen dessen Deckeln die Fasern einer strapazierten Bastmatte hervorquellen, hat der Künstler Dietmar Pfister „Beziehungsroman (nach Strindberg)“ getauft. Wenn der Sommer sich neigt, aber noch nicht torkelt, wenn Literaten und Gedanken unter Bäumen schweifen und sich noch nicht in Frankfurter Messehallen stauen, erinnert das Erlanger Poetenfest an den bevorstehenden Herbst und die sanfte Macht der Bücher. Kurzeck empfahl seinen Zuhörern im Schlossgarten, als Heilmittel gegen die Vergänglichkeit das Obst der jeweiligen Jahreszeit zu essen, während der in Berlin lebende „fachsprachen“-Exeget Ulf Stolterfoht im lichten Barock der Orangerie Pfisters ausgestellte Buch-Persönlichkeiten zu „gedichtbegleitenden maßnahmen“ erklärte: „wir jungen schwäbischen künstler dürfen jetzt nicht nachlassen was das verfassen ungegenständlicher lyrik betrifft.“

Nicht nachgelassen hat auch das laut Moderator Hajo Steinert „schönste Familienfest der deutschen Literatur“ in seiner 23. Ausgabe, trotz des geringeren Etats und einer Zäsur: Der 35-jährige Bodo Birk übernahm die Leitung als Nachfolger des pensionierten Poetenfest-Erfinders Karl Manfred Fischer. Der aus der Gefährdung durch kommunale Geldnot erwachsene Publikumsandrang und Proteststurm des vergangenen Jahres führte zur erhofften Konsolidierung. So konnten bei einem Etat von 90 000 Euro erneut rund sechzig Autoren und Kritiker eingeladen werden – von A wie Ernst Augustin bis Z wie Feridun Zaimoglu. Sie alle rangen mit dem Wetter, das über Abbruch oder Fortsetzung so mancher Lesung entschied und den unter Protest wartenden Walter Kempowski zu spätabendlichem Kaffeekonsum zwang. Ihm, der beliebten Ljudmila Ulitzkaja und dem designierten Büchner-Preisträger Alexander Kluge galten groß angelegte Autorenporträts. Die politische Sonntagsmatinee blieb wie so oft den gesetzten Herren vorbehalten; im Sinne des örtlichen Mottos „Moment amol“ liebt man es hier gelassen bis leicht bieder. „Das Erlangen, meine Lieben, hat etwas Kurioses“, dichtete flugs das Universalgenie Franzobel.

Die Bedürfnisse der intellektuellen Männerrunde wissen Matthias Polityckis Gedichte „Ratschlag zum Verzehr der Seidenraupe“ trefflich zu bedienen. Doch die gleichsam demokratische Offenheit des Parkgeländes wurde ebenso zurückgenommenen Konzepten wie dem des Deutsch-Iraners Farhad Showghi gerecht. Als der Psychiater in einer Patientenakte auf das Wort „Seekrankenkasse“ stieß, setzte das eine lyrische Assoziationskette in Gang. Showghi sucht nach „unbewussten Zonen“ eines Wortes, in denen es sich noch nicht für eine Bedeutung entschieden hat. Indizien einer neuen Ernsthaftigkeit lieferten Julia Franck, Norbert Gstrein und Michael Kumpfmüller, deren aktuelle Romane sich um eine Ausreise aus der DDR, Balkankrieg und Kindstötung drehen. Benjamin Lebert las das erste Mal aus seinem Buch „Der Rabe ist ein Vogel“. Der 21-Jährige wehrte sich gegen die schulterklopfende Behauptung, nun literarisch volljährig zu sein, für ihn kein erstrebenswerter Zustand.

„Es gibt kaum etwas Menschlicheres als Übersetzen“, sagt Swetlana Geier. Die Romane Fjodor M. Dostojewskijs wurden ihr zum Schicksal, das der Verleger Egon Ammann leidenschaftlich teilt. Den tradierten falschen Titel „Schuld und Sühne“ änderte Geier in „Verbrechen und Strafe“, eine Pioniertat. Dostojewskij wolle den Menschen nicht sehen, sondern sprechen hören, weshalb sie ihre Übertragung Morgen für Morgen einer Mitarbeiterin in die Schreibmaschine diktiert. Swetlana Geiers Werkstattbericht vom Ringen mit dem Meister, den sie auswendig kann, ihr lautmalerischer Vergleich zwischen dem blitzhellen deutschen „plötzlich“ und dem dumpfen russischen „vdrug", versetzten das Markgrafentheater in atemlose Spannung. Die geistige Jugendlichkeit einer 80-Jährigen und ihre Begeisterung für die Literatur, für den slawischen Überschwang: Schöner kann ein Poetenfest nicht ausklingen.

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