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Wolf Jobst Siedler.

© Imago

Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler gestorben: Gebildeter Flaneur und Begleiter Berlins

Der renommierte Verleger Wolf Jobst Siedler war eine der prägenden Erscheinungen im intellektuellen Leben der Bundesrepublik. Als junger Mann leitete er das Feuilleton des Tagesspiegels. Am Mittwoch ist er im Alter von 87 Jahren verstorben.

Seit Jahren hat er sich, alters- und krankheitshalber, aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Doch die Nachricht von seinem Tode lässt sogleich wieder vor Augen treten, was Wolf Jobst Siedler war: über viele Jahrzehnte eine bedeutende, inspirierende und bewunderte Erscheinung im intellektuellen Leben der Bundesrepublik. Zumal Berlin seit den frühen Nachkriegsjahren in ihm einen Begleiter, Deuter und Mitbeweger gehabt hat, der seinesgleichen sucht. Und zwar im großen, weit über die Stadt hinausreichenden Sinne. Denn in ihm war etwas Wichtiges Gegenwart: Kultur und Geistesart, die nicht allein mit ihren Urteilen und Standpunkten wirkte, sondern – so möchte man sagen – durch ihr Dasein. Von diesem Autor und Verleger ging eine Kraft aus, die auf unterschiedliche Weise, aber immer in unverkennbarer Eigenart an dem vergangenen Halbjahrhundert mitwirkte. Einprägsam war er schon durch sein Auftreten: Als junger Mann durchaus dem Bild des romantischen Jünglings nahekommend, freilich in seiner eleganten Spielart, blieb er zeitlebens eine präsentable Figur – ein Herr, eindrucksvoll mit seiner kräftigen Physiognomie unter dem bis ins Alter dichten Haarschopf. Dazu gesellte sich eine Fülle von Begabungen und Fähigkeiten, mit denen er wirkte und für sich einnahm: Charme, Kultiviertheit und Weltläufigkeit. Gewiss neigte er gelegentlich auch dazu, mehr auszuspielen, als er in den Karten hatte. Doch selbst sein Überlegenheitsgefühl trug er so lässig, dass es ihm von fast jedem nachgesehen wurde.

Dieser gebildete Flaneur begründete seinen Ruf schon mit seinen Anfängen, die furios gewesen sein müssen. Erst 26-jährig wird er Feuilletonchef dieser Zeitung, und dirigiert im eingeschlossenen Berlin locker einen Kulturteil, in dem wie selbstverständlich die großen Namen der Zeit auftauchen, von Arthur Koestler bis Hanna Arendt, von William Faulkner bis Saul Bellow. Bald überall in Berlin präsent, als verblüffende Begabung, als Anstoß-Geber und als gesellige Natur, brillierte er zugleich als Autor. Mit einer Handvoll Essays, Kritiken und Rezensionen, veröffentlicht zumeist im Tagesspiegel, ist sogleich ein unverwechselbarer Ton, sein Ton da – diese Mischung von Geist und Eleganz, die sichere Textur der Bilder und Assoziationen, das leichthändige Paraphrasieren durch die Geschichts- und Weltlagen. Selten galt das Wort, dass der Stil der Mensch sei, so wie bei ihm. Als eine Leser-Umfrage in den neunziger Jahren nach herausragenden Tagesspiegel-Autoren fragte, rangierte er noch immer ganz oben. Dabei hatte er das Blatt schon vor Jahrzehnten verlassen.

Doch die Schreibe des jungen Siedler verband sich – was vielleicht noch verwunderlicher war als ihre stilistische Sicherheit – mit intellektuellem Anspruch. Von Anfang an verblüfften seine Artikel mit dem seismographischen Ehrgeiz, von Nebensächlichkeiten aus, von der Veränderung der Schmuckformen an den Gebäuden oder dem Stil von Kriegsliedern, den Wandel des Zeitgeistes zu erspüren. Das verdichtete sich in dem Buch, mit dem er Furore machte. Es hieß „Die gemordete Stadt“, Untertitel: „Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum“, und erschien 1964. Es warf dem modernen Städtebau den Fehdehandschuh hin. Erst als reaktionäres Ärgernis angegriffen, wurde das Buch bald zum Schrittmacher für ein Umdenken, das, in Architektur und Lebensanschauung, noch bis in die Gegenwart nachwirkt. Es präludiert ironisch einer Rückschrittlichkeit, die auf der Höhe der Zeit ist, einem Konservatismus, der guten Gewissens freundliche Beziehungen zum Fortschritt unterhält, also einem Leben in und mit den Ambivalenzen der Epoche. Was Siedler übrigens nicht daran hinderte, zu einer unüberhörbaren Stimme in den damaligen Berliner Bau-Debatten zu werden.

Seine Neigung zu einer repräsentativen Existenz hat er nie geleugnet.

Er war, von Willy Brandt geholt, Mitglied des Planungsbeirats Berlins, und gehörte Mitte der siebziger Jahre zu den Anregern der Internationalen Bauausstellung, mit der West-Berlin überzeugende Beispiele für architektonische Erneuerung setzte. Dass der Gropius-Bau noch steht, heute das unverzichtbare, schöne Berliner Ausstellungsgebäude – und nicht der Stadtplanung zum Opfer gefallen ist –, ist nicht zuletzt ihm zu verdanken. Nicht weniger stürmisch als die journalistische Karriere gestaltete sich die des Verlegers. Mit 37 Jahren Chef des Propyläen-Verlags, später auch von Ullstein, wurde er rasch zu einem der maßgebenden Köpfe der Branche. Auf das Zerwürfnis mit Springer folgte die Gründung des eigenen Verlags und damit – mit 52 Jahren – eine zweite Erfolgsgeschichte. Siedler erspürte das Interesse an Geschichte und Biographie, das in den achtziger Jahren aufkam, und bahnte ihm mit seinen Verlagsprogrammen den Weg. Für zwei, drei Jahrzehnte brachte er auf den Weg, was in diesem Spektrum gut und inspirierend war. Mit großen Reihenwerken wie „Die Deutschen und ihre Nation“ hinterließ er Spuren im Geistesleben der Bundesrepublik, mit Autobiographien von Kreisky bis Strauß, von Gorbatschow bis Genscher formte er mit an ihrem Bewusstsein der Zeit. Lag diese Wirkung daran, dass Siedlers „ganzes Wissenwollen“ – wie er das für sich in Anspruch genommen hat – „merkwürdigerweise oft das meiner Generation gewesen ist?“ Dann besteht die Pointe darin, dass Siedler sich eigentlich nie im Mainstream der deutschen Intellektuellen bewegte. Er forderte ihn, im Gegenteil, gerne heraus – zumal in seiner 68-er Fassung. Er war stolz darauf, stets dem Zeitgeist widerstanden zu haben, und war doch nichts weniger als ein Unzeitgemäßer. Seine Neigung zu einer repräsentativen Existenz hat er nie geleugnet, auch nicht die Lust auf Anerkennung und Einfluss. Es fehlte nicht viel – nämlich seine Einwilligung –, dass er in Berlin in den siebziger Jahren auch Senator geworden wäre.

In dieser Haltung steckte nicht nur ein ausgeprägtes Selbstgefühl, sondern auch die Sehnsucht nach der Lebensform, die er zugleich als vergangen begriff: der des Bürgers, der Bürgerlichkeit. Nachgerade rhapsodisch beschwor er das Versinken des alten Europa, den Verlust der jüdischen Bildungsschicht, die Erosion der gesellschaftlichen Kultur. Geradezu ein Virtuose in diesen Abgesängen, pflegte er das elegische Parlando fast wie eine eigene Kunstform. Seine Prosa und sein Denken hatten den großen Flügelschlag, den weit ausholenden Blick entlang der Bruchlinien der Geschichte. Seine Welt reichte von Sybaris, der legendären Griechenstadt am Golf von Tarent, bis zu den Seelower Höhen, dem Ort der letzten Schlacht des zweiten Weltkriegs. Verfolgte er das Untergegangene so hingegeben, weil er es doch irgendwie aufgehoben glaubte – in seiner fast bennschen Begriffsmelodie, in seinem Schreiben und Verlegen, im Stil seiner eigenen Existenz? Jedenfalls nutzte Siedler die Melancholie wie eine Wünschelrute, um ganze Provinzen des Erinnerns und Erkennens, des Denkens und Fühlens wieder in die Gegenwart zurückzuholen. Wer hat Preußen dem zeitgenössischen Empfinden so wiedergewonnen wie er – zumal das arkadisch angehauchte Potsdam und das klassizistische Berlin? Was hätte uns die Geburtsstunde unserer Gegenwart, also die den Jahrzehnten um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, so nahe gebracht wie die Einfühlung, mit der er die Aufschwünge und Untergänge der bürgerlichen Welt rekapitulierte, sei es anhand der Baugeschichte, sei es mit den Sonden, die er in Literatur und Kultur senkte? Und in den achtziger Jahren, in denen die deutsche Teilung sich zugleich lockerte und endgültig zu werden schien, hat kaum etwas den deutschen Osten so vor das innere Auge gerückt wie Siedlers Wanderungen „zwischen Osten und nirgendwo“ – ein kleiner Essayband, ein großer Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur.

Nicht vergessen werden darf, was vor dieser Laufbahn stand. Er stammte aus einer alten Berliner Familie.

Im Alter von 87 stirbt der Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler, der jahrelang das Feuilleton des Tagesspiegels leitete.
Im Alter von 87 stirbt der Verleger und Publizist Wolf Jobst Siedler, der jahrelang das Feuilleton des Tagesspiegels leitete.

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War er konservativ? Er lies sich nicht ungern dafür halten. Aber war er dafür nicht doch zu aufgeschlossen? Am ehesten kommt man ihm wohl bei, wenn man die paradoxe Formel, die er einmal für einen Autor gefunden hat – er sei auf linke Weise rechts –, auf ihn selbst anwendet. Dass man ihn einen „linken Tory“ genannt hat, hat jedenfalls sein Herz erwärmt. Aber ist er nicht oft genug auf rechte Weise links gewesen? Seine politischen Freunde hatte er in der SPD, als sie die Berlin-Partei war – Klaus Schütz gehörte dazu, Egon Bahr, Willy Brandt. Aber Parteibindung bedeutete das nicht. In dem bürgerlichen Milieu, in dem er wurzelte, demonstrierte es Unabhängigkeit. Darauf, dass er das war – und blieb – hat er sich am meisten zugute gehalten. Nicht vergessen werden darf, was vor dieser Laufbahn stand. Herkunft aus alter Berliner Familie – Lieblingsvorfahre der Bildhauer Schadow –, eine Vorkriegswelt, in die das „Dritte Reich“ kaum eindrang, dann das dramatische Hereingezogenwerden in die Mühlen des Regimes und die Schlussphase des Krieges. Wegen einer Denunziation wurde der 17-Jährige verhaftet, verurteilt und dank glücklicher Umstände zur Frontbewährung begnadigt. Dem Krieg entkam er mit zerschossener Hand, nach zweieinhalb Jahren Gefangenschaft. Zeitig genug, um die Auseinandersetzungen um die Stadt und den kulturellen Aufbruch der Nachkriegsjahre mitzuerleben. Siedler hat diese Zeit die „nachgeholten zwanziger Jahre“ seiner Generation genannt, die „Drittes Reich“ und Krieg zu einer verlorenen Generation gemacht hatte. Und der es doch gelang, der Katastrophe zu entkommen und sie irgendwie auch im eigenen Leben aufzuheben, im doppelten Sinn. Siedler hat es in seinen Erinnerungen beschrieben. Sie sind eine Archäologie der Berliner Nachkriegsjahre, und dass sie – „Ein Leben wird besichtigt“(2000), „Wir sind noch einmal davon gekommen“(2004) – nicht die Resonanz gefunden haben, die sie verdient hätten, hat ihn gewurmt. Denn in ihnen steckt auch die ungeschriebene Kulturgeschichte Berlins, die untrennbar zu der politischen Geschichte der Stadt gehört. Ohnehin kann man von Siedler nicht sprechen, ohne sein Verhältnis zu Berlin zu berühren. Anders als viele, die die Stadt verließen, als sie zur Insel geworden war, hat er allen Versuchen, ihn anderswohin zu locken, nach Frankfurt oder Hamburg, widerstanden. Doch es war allemal eine Zuneigung mit Widerhaken. Merkwürdigerweise erst recht nach der Wiedervereinigung der Stadt. Hatte er in den fünfziger und sechziger Jahren das übrig gebliebene alte Berlin gegen den Ansturm der Großarchitektur verteidigt, so empfahl er jetzt die Distanz zu den überkommenen Marksteinen des Berliner Bauens und plädierte dafür, sich beim Wiederaufbau der Stadt von den Glanzstücken der internationalen Architektur, der Louvre-Pyramide oder der Bank von Hongkong, inspirieren zu lassen. „Phönix im Sand“ überschrieb er sarkastisch sein Resümee des Vereinigungs-Jahrzehnts.

Auch dies ist, sieht man genau hin, ein Zeugnis der tiefen Verbundenheit mit der Stadt, mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart, die Siedlers Leben den Grundton gab. Sie hatte ihren Angelpunkt, gewiss doch, im Nachkriegsberlin, aus dem dann für vier Jahrzehnte West-Berlin wurde. Er war sich des Gleichklangs seines Lebens mit diesen Jugendjahren der heutigen Stadt wohl bewusst: „Die Jahre, in denen ich zu mir selbst fand“, so hat er in seinen Erinnerungen geschrieben, waren auch „die Jahre des Aufbruchs meiner Generation und des Aufbruchs Berlins“. Etwas von dieser Zeitgenossenschaft lebte mit ihm weiter, und dass er in dem Dahlemer Reihenhaus im Gartenstadt-Stil der Jahrhundertwende, in dem er sein ganzes Leben verbrachte, nun auch gestorben ist, mag man als eine Abbreviatur dieses Lebensbogens sehen. Und darf man da nicht auch an den schönen Vers aus Fontanes Archibald Douglas denken: „Der ist in tiefster Seele treu/der die Heimat liebt wie du“? Mit Siedlers Tod schließt eine Epoche ab. In ihr hat sich die Stadt wieder erhoben und damit die Grundlagen für ihr gestriges Überleben und ihr heutiges Weiterleben gelegt. Wolf Jobst Siedler kommt dabei das Verdienst zu, Berlin wie kaum ein anderer – mit einer Anleihe bei Thomas Mann gesagt – als geistige Lebensform verkörpert zu haben.

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