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Kultur: Verliebt in den Luxus: Paris und London versuchen, die letzte Jahrhundertwende auf den Begriff zu bringen

Drei Museumsdirektoren hatten die gleiche Idee. Im Februar wagte sich die Royal Academy in London an eine Neuinszenierung der offiziellen Kunstschau, die vor 100 Jahren den Besuchern der Pariser Weltausstellung geboten worden war, und konfrontierte sie mit zeitgenössischen Werken, die heute zum Kanon der Kunstgeschichte gehören - ein lehrreicher, oft amüsanter Kontrast.

Drei Museumsdirektoren hatten die gleiche Idee. Im Februar wagte sich die Royal Academy in London an eine Neuinszenierung der offiziellen Kunstschau, die vor 100 Jahren den Besuchern der Pariser Weltausstellung geboten worden war, und konfrontierte sie mit zeitgenössischen Werken, die heute zum Kanon der Kunstgeschichte gehören - ein lehrreicher, oft amüsanter Kontrast. Jetzt haben das Pariser Grand Palais, die Stätte eben jener Kunstschau, und das Victoria and Albert Museum in London dieselbe Jahrhundertwende noch einmal ins Visier genommen.

"1900" nennt sich, schlicht und einfach, die Pariser Ausstellung. Was sie vorführen will, ist ein Querschnitt durch sämtliche künstlerische Disziplinen - von der Malerei zum Kunsthandwerk, von der Architektur zur Fotografie. Späte Impressionisten hängen neben frühen Expressionisten, Symbolisten neben Naturalisten, Picassos rosa Periode neben skandinavischer Folklore, nicht zu vergessen die unerschütterliche Arrièregarde der pompiers. Buchschmuck von William Morris, Plakate von Alfons Mucha, Henry van de Veldes berühmter halbrunder Schreibtisch, ein Stuhl von Charles Mackintosh - insgesamt 400 Stücke sollen das Aroma des Fin de siècle verströmen. Das tun sie auch, doch bleiben die Zusammenhänge leider unklar. Selbst der blühendste kunsthistorische und psychoanalytische Jargon kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Otto Wagners Kirche am Steinhof, Rodins Skulpturen, die "piktorialen" Fotografien von Alfred Stieglitz und Arthur Rackhams Kinderbücher nichts miteinander gemein haben - einmal abgesehen davon, dass sie zur gleichen Zeit entstanden. Der Besucher irrt durch das kostspielige Tohuwabohu wie durch eine Antiquitätenmesse.

Die Londoner Kuratoren haben es geschickter angestellt. Sie haben das uferlose Thema auf "Art nouveau" begrenzt. Dass sich ausgerechnet die Engländer zum Anwalt dieser relativ kurzen - nicht einmal zwanzigjährigen - Periode der Kunstgeschichte machen, ist keineswegs selbstverständlich. Als ein englischer Sammler von der Pariser Weltausstellung zwei Dutzend Stücke erwarb und dem Victoria and Albert Museum schenkte, zögerte das Museum, das Geschenk anzunehmen. Es rang sich schließlich dazu durch, doch verschwand die anrüchige Gabe im Depot. Grund für die Abneigung gegen die kontinentalen Exzesse war die Arts-and-Crafts-Bewegung, die damals die englische Szene beherrschte. Aubrey Beardsley, der den kontinentalen Geschmack teilte, wurde von der Londoner Kritik als "Fra Angelico des Satanismus" geschmäht.

Unfreiwilliger Taufpate der neuen Richtung war der Hamburger Kunsthändler Siegfried Bing, der 1895 in Paris eine Galerie mit dem Namen "Art nouveau" eröffnete. 1896 erschien in München die erste Nummer der Zeitschrift "Jugend". Wieder ein Jahr später gründete Gustav Klimt mit gleichgesinnten Kollegen die "Wiener Sezession". Das Victoria and Albert Museum zeigt, was Art nouveau, Jugendstil und Sezession trotz ihrer unterschiedlichen Namen verbindet. Am Beispiel von acht Städten - außer Paris, München und Wien sind es Brüssel, Budapest, Glasgow, Helsinki und New York - werden die wichtigsten Vertreter mit charakteristischen Werken vorgestellt. Da sie mit der Arts-and-Crafts-Bewegung den Glauben an die Gleichberechtigung aller Künste teilten, beherrscht das Kunsthandwerk die Szene: Vasen von Émile Gallé, Schmuck von René Lalique, Lampen von Louis Tiffany. Bedauerlich ist nur, dass die Veranstalter darauf verzichtet haben, zumindest an einem Beispiel vorzuführen, wie sehr es den Designern darauf ankam, einen Raum aus einem Guss zu gestalten, als Gesamtkunstwerk. Auch die Architektur kommt zu kurz.

Die Austellung macht klar, wie schwer es ist, Art nouveau zu definieren. Der in den Luxus verliebte Eklektizismus kannte keine Grenzen: Man bediente sich bei der japanischen Kunst ebenso bedenkenlos wie bei der islamischen, beim Rokoko wie beim Biedermeier. Die Ausstellung macht auch klar, wie falsch es wäre, die ganze Richtung über einen Kamm zu scheren. Die Blattformen und Pflanzenmotive, die Geschmeide aus Käfern und Spinnen finden wir hauptsächlich in Frankreich und Belgien, während man an der Glasgow School of Art, in München und Wien der klassischen Geometrie viel näher blieb, auch wenn man sie elegant verfremdete. Aus dem französischen Zweig entwickelte sich schließlich der Art-déco-Stil, aus dem mitteleuropäischen der Deutsche Werkbund und die moderne Architektur.

Es war Adolf Loos, einer der Väter der modernen Architektur, der in seinem berühmten Aufsatz "Ornament und Verbrechen" (1908) dem Jugendstil und seinem koketten Narzissmus den Kampf ansagte und eine neue Nüchternheit forderte. Das euphorische Gedränge im Victoria and Albert Museum verrät, dass den Briten die Diktatur der Nüchternheit, die sie fast ein ganzes Jahrhundert lang ertragen mussten, zum Halse heraushängt und sie sich nach den Wonnen des Ornaments zurücksehnen.

Jörg von Uthmann

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