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Kultur: Verlorene Generation

Land im Aufbruch: Indridi G. Thorsteinsson erzählt vom Island der fünfziger Jahre

Reykjavik 1951. Die ganze Stadt steht unter dem Bann des großen, amerikanischen Luftwaffenstützpunktes Kevlavik. Hunderte von erlebnishungrigen Soldaten strömen jeden Abend in die Innenstadt mit ihren Bars und Tanzschuppen. Die Kellner schwänzeln um die jungen Männer herum, die freigebig Trinkgeld verteilen und sich damit Freundschaft und Liebe erkaufen: einsame Männer, die überall die Fotos ihrer Freundinnen, Ehefrauen und Kinder herumzeigen. Niemand bleibt mehr stehen, wenn sie auf Parkbänken oder Grünflächen schlafen – zu betrunken, um noch in ein Taxi zu steigen. Auch an das ständige Pfeifen der Triebwerke über der Stadt hat man sich längst gewöhnt. Von diesem Ausnahmezustand erzählt der erste, 1955 erschienene Roman „Taxi 79 ab Station“ des isländischen Erzählers Indridi G. Thorsteinsson, dessen kunstvolle Lakonie seinen Autor zu Recht berühmt machte (und erfolgreich verfilmt wurde).

Das dünn besiedelte, felsige und bitterarme Island, das sich erst kurz vor Kriegsende von der dänischen Vorherrschaft und der alliierten Besatzung befreit hatte und 1949 der NATO beitrat, stand notgedrungen unter amerikanischem Schutz, weil es keine eigenen Truppen besaß. Die stolzen, eigensinnigen Inselbewohner litten unter den Amerikanern, die ihnen ihre Rückständigkeit ständig vor Augen führten – ein Modernisierungsschub mit traumatischen Auswirkungen.

Die Stimmung in der Stadt war explosiv und elegisch zugleich. Auch Ragnar ist mit großen Hoffnungen in die Stadt gekommen, er liebt schnelle Autos und schlägt sich als Taxifahrer durch – geplagt von den wütenden Briefen seiner Eltern, die ihn einen Verräter und Versager nennen. In schwachen Stunden findet er, dass sie recht haben: Außer flüchtigen Liebschaften, einem alten Auto und einem schäbigen Untermietzimmer hat er nichts zu bieten. Eindringlich beschrieben ist auch die Taxistation, wo die Fahrer auf ihre Einsätze warten. Indridi als ehemaliger Fahrer kannte dieses Milieu genau: eine hässliche, kaum möblierte Halle, beherrscht von einem scheppernden Mikrophon. Die Fahrer stilisieren sich gern als harte Kerle, die fluchen und ordinäre Sprüche von sich geben, „ohne dass es etwas bedeutet hätte. Die Wörter standen leer und einsam herum und waren Teil der harten Schale.“ Die Älteren geben ständig ungefragt Ratschläge zum Umgang mit Motorschäden, Schwarzgebranntem und Geschlechtskrankheiten – aber an ihre Gefühle lassen die Männer keinen heran, darüber schweigen sie. Vor allem über die Liebe.

„Ich hatte niemals Lust, eine spezielle Erfahrungswelt zu schaffen, weil ich Fantasie nicht leiden kann“, verkündete Indridi Thorsteinsson 1985 im Rückblick auf sein Schreiben, das mit Short stories begann. Auch sein Roman ist noch von deren knappem, sachlichem Stil geprägt und reiht in spröden Hauptsätzen Detail an Detail: wie sein Held das Auto anlässt um zu der Frau zu fahren, in die er sich gerade verliebt hat, wie er die Bewegung der Scheibenwischer beobachtet und vor dem Haus im Wagen sitzen bleibt um sich auszumalen, was er zu trinken angeboten bekommt – und ob es vielleicht einen Ehemann gibt. Die Liebesgeschichte, die nach einer nächtlichen Autopanne auf der Straße zum Luftwaffenstützpunkt begann, wird als Katastrophe enden. Doch schon der vor Sehnsucht vibrierende Anfang, raffiniert verpackt in ein schleppendes Gespräch über zerfetzte Keilriemen und durchgeschmorte Zylinderkopfdichtungen, ist herzzerreißend und erinnert an Chandlers Philipp Marlowe, der rein und unbefleckt durch den Seelenmüll seiner Stadt wandert. Marlowe verliert nie wirklich sein Herz, schon gar nicht, wie Ragnar, an ein Luxusgeschöpf. Ragnar verfällt dieser geheimnisvollen, schweigsamen Gogo sofort – ihrem selbstquälerischen Stolz und ihrer tiefen, erotischen Stimme. Er hält sie für einen „echten Teufelskerl“ – womit er sich fatal irrt.

Das Zusammentreffen eines kargen, alle Gefühle aussparenden Erzählens mit der verhassten und bewunderten Schönheit der isländischen Natur und ihren empfindsamen Menschen ist ein Glücksfall und erzeugt eine besondere, dramatische Fallhöhe. Deshalb gehört die Wildgansjagd, die Ragnars bester Freund ihm aufzwingt, um seinen Liebesschmerz im Keim zu ersticken, mit ihren teils bizarren, teils kindlichen Glücksmomenten zu den schönsten Kapiteln des Romans. In ihrer auf Ibsen und Hemingway anspielenden Symbolik stecken die Ängste und Hoffnungen der ganzen Geschichte. Die betulich gluckenden Vögel im Moor, denen sich beide Jäger wie in einem Wildwest-Spiel kichernd als Schafe verkleidet nähern, wirken als tote, blutverkrustete Tiere so obszön wie traurig – „wie Hoflakaien in Livree“, findet Ragnar, während seine Taxikollegen das weiche Gefieder erotisch finden. Als die toten Vögel bei Gogo im Keller liegen, scheint nicht nur die politische Hoffnung, sondern auch die auf ein kleines Glück begraben. Weder für die Freiheit noch für die Liebe mit ihren doppeldeutigen Spielen scheint das bäuerliche Island zu taugen.

„In der Stadt passiert alles mit Gangschaltung, dort herrschen Härte, Schnelligkeit und Genauigkeit“ – so beschrieb der Autor Stil und Intention seines Romans. Er war der erste in Island, der von einer leidenschaftlichen, glücklichen Beziehung zwischen Mensch und Maschine erzählte. Aber es gibt, anders als bei Hemingway, kein Männlichkeits-Pathos in der Schilderung der Figuren. Ragnars letzte, verzweifelte Autofahrt wirkt eher wie das Anrennen gegen Windmühlenflügel, und die eisige Natur scheint angesichts seiner Aufregung sogar um einige Grade abzukühlen. Indridi Thorsteinsson, der im Jahr 2000 starb, stellte sich als Erzähler und Journalist entschieden auf die Seite der Modernisierung (u.a. gründete er 1986 die erste PR-Agentur Islands). Aber er setzte dem isländischen Fatalismus, seiner Sturheit, Selbstironie und Empfindsamkeit mit seinen spröden Sätzen ein beeindruckendes Denkmal.

Indridi G. Thorsteinsson: Taxi 79 ab Station. Roman.

Aus dem Isländischen von Betty Wahl.

Transit Verlag,

Berlin 2011.

128 S., 14,80 Euro

Nicole Henneberg

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