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Kultur: Versandungskultur

Nicht alles klappt, aber Berlin ist ein Magnet: ein Kultur-Lesebuch

Erst kürzlich erteilte eine französische Studie der deutschen Hauptstadt den Ritterschlag in Sachen High Hipness: Während Paris die Stadt der Selbstvergewisserung sei und London das Mekka der Internationalität, gelte Berlin als Metropole der Kreativen.

Mit dieser Gewissheit hätte ein Buch über die Berliner Kultur-Szene aus dem Vollen schöpfen können. Doch zwischen Fremd- und Eigenwahrnehmung klaffen gewaltige Lücken: Die Aufbruchstimmung der Wendejahre ist verflogen, die Kassen leer, der Kultursektor im Würgegriff der Sanierer. Vierzehn Jahre nach der Wende herrschen Umbruchstimmung und Angst vor einer Normalität, die man sich so auch nicht vorgestellt hat. In die Gemengelage platzt nun ein „Kultur-Lesebuch“ von Hans-Jörg Clement, dessen Titel „Szene Berlin“ (Bostelmann & Siebenhaar Verlag, Berlin 2003, 272 Seiten, 19,80 Euro) mindestens irreführend ist.

Als Leiter der Kulturabteilung der Konrad-Adenauer-Stiftung reduziert Clement den Szene-Begriff nicht auf das hektische Gedränge, Gewürge und Sein-Wollen einer selbst ernannten In-Crowd. Clement sucht das Beständigere, die Meso- und Makrozyklen des kulturellen Lebens, und er findet zu einer stimmigen Konzeption, die gekonnt den Bogen von Klassik zu Eventkultur und Ethno schlägt.

Kein aufgekratzter Offszene-Ton, keine Feiertagsrhetorik von Kulturpolitikern. Clement gibt den Gestaltern selbst das Wort. Die Essays sind inspirierend geschrieben und zeugen von einer Euphorie, die der Schriftsteller Gaston Salvatore in die Worte fasst: „Irgendeinem Kult dient sie, die Stadt, aber sie wirft keine Sätze aus.“ Immerhin reicht es aber für drei Thesen. Erstens: Die kulturelle Topographie Berlins macht sich kaum noch an regionalen Knotenpunkten fest. Nicht mehr ausrangierte Szenebezirke wie Prenzlauer Berg und Friedrichshain geben den Takt des Kulturlebens vor, sondern frei diffundierende Individuen. Zweitens: Noch immer zieht Berlin Künstler, Designer und Kulturmacher oder solche, die es werden wollen, magnetisch an. Zwar versanden viele Ideen, da sie keine institutionellen Förderstrukturen finden, doch entgehen die realisierten Projekte auch der Gefahr, von einer arrivierten Kulturschickeria vereinnahmt zu werden.

Berlin bleibt eine Stadt der Subkultur. In der internationalen Wahrnehmung schneidet es damit – womit wir bei drittens wären – wesentlich besser ab als aus deutscher Sicht. Renommierte Stars, wie der Designer Hedi Slimane, suchen Inspirationen im trashigen Berliner Stil. Es gilt: Der Künstler lebt und arbeitet in Berlin. Auch wenn er nur Lebenskünstler ist.

Thomas Thiel

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