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Kultur: Verschenkte Zeit

Karin Kunze, eine typische deutsche Frau, arbeitet 53 Stunden pro Woche, genauso lange wie Susan Smith, eine durchschnittliche Amerikanerin. Dieses Ergebnis unserer Zeitbudgetanalysen ist überraschend, klingen uns doch noch die Thesen vom "Freizeitpark Deutschland" und vom "überarbeiteten Amerikaner" in den Ohren.

Karin Kunze, eine typische deutsche Frau, arbeitet 53 Stunden pro Woche, genauso lange wie Susan Smith, eine durchschnittliche Amerikanerin. Dieses Ergebnis unserer Zeitbudgetanalysen ist überraschend, klingen uns doch noch die Thesen vom "Freizeitpark Deutschland" und vom "überarbeiteten Amerikaner" in den Ohren. Wenn amerikanische und deutsche Frauen gleich lange arbeiten, weshalb generiert die US-Ökonomie so viel mehr Jobs? Warum haben dann rund 70 Prozent der Amerikanerinnen einen Job, aber nur rund 60 Prozent der deutschen Frauen? Die Antwort liegt in der unterschiedlichen Verteilung der Zeit auf Erwerbs- und Hausarbeit.

Unsere Analysen zeigen, dass in den USA wesentlich mehr Erwerbsarbeit auf dem Arbeitsmarkt und weniger Arbeit im Haushalt verrichtet wird als in Deutschland. Die Arbeitszeit der statistisch typischen Frau ist die gleiche diesseits wie jenseits des Atlantiks, aber die Amerikanerin verbringt 50 Prozent ihrer Arbeitszeit in einem Betrieb oder Büro, während sich deutsche Frauen während 70 Prozent ihrer Arbeitszeit mit ihrem Haushalt beschäftigen - um zu kochen, sauber zu machen, Pflegebedürftige zu betreuen, den Kindern zu helfen. Nur 30 Prozent ihrer Arbeitszeit verbringen deutsche Frauen in Betrieben und Büros. Karin Kunze arbeitet neun Stunden pro Woche länger im Haushalt als Susan Smith, aber dafür nur rund 18 Stunden in Betrieb oder Büro, weshalb beide ungefähr die gleiche Freizeit von 38 Stunden genießen können.

Verschwendung von Ressourcen

Der Ort, an dem Arbeit verrichtet wird, ob im Arbeitsmarkt oder im Haushalt, hat weit reichende ökonomische und gesellschaftliche Konsequenzen und schlägt sich sehr unterschiedlich in den Wirtschaftsstatistiken nieder. Susan Smiths Arbeit geht zu 50 Prozent ins Bruttosozialprodukt ein, Karin Kunzes Arbeit nur zu 30 Prozent; ein Grund warum das Pro-Kopf-Einkommen in den USA höher ist als in Deutschland. In Erwerbsarbeit können unterschiedliche Qualifikationen miteinander kombiniert werden, aber Haushalte müssen die Qualifikationen verwenden, die ihre Mitglieder einbringen. Im Haushalt verrichten hoch qualifizierte und geringer qualifizierte Frauen die gleichen Tätigkeiten, aber in Unternehmen werden unterschiedliche Qualifikationen kombiniert.

Restaurants sind ein gutes Beispiel: Dort werden die Qualifikationen der Küchenhilfe und der Restaurantmanagerin kombiniert, im Haushalt ist dieselbe Person zugleich Küchenhilfe, Reinigungskraft und Einkaufsdisponent. Erwerbseinkommen - Geld - kann überall zum Kauf von Waren und Dienstleistungen verwendet werden, Hausarbeit wird nur von der Familie honoriert. Erwerbseinkommen müssen versteuert werden und unterliegen Sozialversicherungsabgaben, Hausarbeit ist steuerfrei.

Amerikaner nutzen den Markt auch für Dienstleistungen, die manche Europäer staunen lassen: Hochzeiten, Kindergeburtstage und Abiturfeiern werden in den USA nicht selten von kommerziellen Organisationen arrangiert, um die berufstätige Mutter von solcher Vereinnahmung ihrer Zeit freizuhalten.

Deutsche und amerikanische Haushalte verwenden beide jeweils etwa 30 Prozent ihres Einkommens für Speisen und Getränke, aber Amerikaner geben davon mehr als die Hälfte in Restaurants aus, während dies in Deutschland weniger als 30 Prozent sind. Gleichzeitig verbringt Karin Kunze beinahe 20 Stunden pro Woche mit der Zubereitung von Mahlzeiten, dem Auf- und Abdecken, dem Essen selbst und dem Reinigen nach dem Essen. Im Gegensatz dazu verwendet Susan Smith nur rund 13 Stunden für diese Aktivitäten.

Eine deutsche Mutter mit Kindern unter sechs Jahren verwendet etwa 20 Stunden pro Woche auf die Kinderbetreuung; eine amerikanische Mutter dagegen nur elf Stunden pro Woche - rund neun Stunden weniger. Aber gleichzeitig ist die Geburtenrate in den Vereinigten Staaten höher als in Deutschland. Amerikanerinnen nutzen in höherem Maße kommerzielle, nicht kommerzielle und gemeinschaftlich organisierte Kindertagesstätten, und sie nutzen den Fernseher als "Babysitter".

Insgesamt verbringt der amerikanische Durchschnittsbürger rund 18 Stunden vor dem Fernseher, während der Durchschnittsdeutsche nur etwa elf Stunden pro Woche fernsieht. Fernsehen ist einerseits eine Haushaltsaktivität, andererseits besteht es in der Nutzung kommerzieller Produkte. Längere Zeiten vor dem Fernseher bedeuten auch mehr Nachfrage nach Unterhaltungsdiensten, Filmen und Shows, was ebenfalls zu Jobs führt. Dies ist ein Grund dafür, dass die Unterhaltungsindustrie in den USA weit mehr Beschäftigte pro Kopf der Bevölkerung hat als in Deutschland.

Warum machen Amerikaner so viel mehr Gebrauch vom Markt als die Deutschen? Die Erklärung ist komplex und ist sowohl bei unterschiedlichen wirtschaftlichen Anreizen wie auch in sozialen Barrieren zu suchen. Unsere Analysen hinsichtlich der Einstellungen zur Erwerbsarbeit, der weichen Faktoren, deuten darauf hin, dass die "harten" ökonomischen Faktoren an Bedeutung gewonnen haben. Der wirtschaftliche Anreiz, länger im Job zu arbeiten und die Hausarbeit zu reduzieren, nimmt mit der Höhe des Lohnes zu. Höhere Steuern und Abgaben vergrößern den Keil zwischen Nettoarbeitslohn einerseits und Bruttoarbeitskosten und Preisen andererseits. In beiden Bereichen gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den USA und Deutschland.

In den USA verdienen 20 Prozent der Arbeitnehmer mehr als fünf Drittel des Durchschnittslohns und unter diesen Spitzenverdienern sind 20 Prozent Frauen. In Deutschland ist diese Lohngruppe mit rund zwei Prozent sehr viel kleiner, und es befindet sich praktisch keine Frau unter den deutschen Spitzenverdienern. Auch in der direkt darunter liegenden Lohngruppe von vier Drittel bis fünf Drittel des Durchschnittslohns sind in den USA immerhin 42 Prozent Frauen, aber nur fünf Prozent in Deutschland. Amerikanerinnen sind in der beruflichen Hierarchie weit höher aufgestiegen, als ihre deutschen Kolleginnen. 40 Prozent der amerikanischen Akademikerinnen verdienen mehr als ihre Ehemänner.

Schlecht bezahlte Frauenjobs

Umgekehrt zeigen unsere Analysen, dass in Deutschland die gering bezahlten Jobs typische Frauenjobs sind. Es gibt also weit mehr gut verdienende Amerikanerinnen - und weniger deutsche Frauen, die ihre Hausarbeitszeit reduzieren und eine höhere Nachfrage nach Dienstleistungen entfalten und so Beschäftigung auch in einfachen Tätigkeiten schaffen. Die Arbeitsteilung in den USA schafft, verglichen mit dem deutschen Modell, mehr Nachfrage nach einfacher Arbeit und erhöht zugleich das Angebot an hoch qualifizierter Arbeit - weil mehr qualifizierte Frauen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Verstärkt wird dieser Effekt durch den so genannten Steuerkeil, die Differenz zwischen dem Nettolohn und den Bruttoarbeitskosten, die neben den Bruttolöhnen Sozialversicherungsbeiträge und andere Lohnnebenkosten enthalten. Der Steuerkeil beträgt in den USA bei einfachen Tätigkeiten 50 Prozent, aber in Deutschland rund 100 Prozent. Mit anderen Worten: Damit sich Marktarbeit statt Hausarbeit in Deutschland lohnt, muss der eigene Bruttolohn sehr viel höher sein als der Lohn des professionellen Dienstleisters, während in den USA bereits ein moderat höherer Lohn ausreicht. In Deutschland macht es ökonomisch Sinn, zu Hause zu bleiben. Marktalternativen gibt es entweder gar nicht oder sie sind für viele Haushalte zu teuer. In den USA gibt es mehr Marktalternativen zur Eigenversorgung und sie sind für eine größere Gruppe erschwinglich. In den USA lohnt es sich für mehr Haushalte, die Erwerbsarbeitszeit auszudehnen und Haushaltsproduktion durch Marktleistungen zu ersetzen.

Aber auch die Organisation des gesellschaftlichen Lebens erschwert Frauen in Deutschland eine Vollzeiterwerbstätigkeit. In Deutschland wird erwartet, dass den Kindern eine Mittagsmahlzeit zu Hause bereitet wird. In den USA wird der Lunch in der Schule serviert, und es werden nachschulische Aktivititäten organisiert. Von Susan Smith wird eine Vollzeiterwerbstätigkeit erwartet, aber von Karin Kunze erwartet man vor allem, dass sie für ihre Kinder sorgt, ihnen bei den Hausaufgaben hilft, sie zum Sport oder Musikunterricht fährt, sie mit Mahlzeiten versorgt. Diese Unterschiede zwischen Deutschland und den USA sind relativ jungen Datums. Noch 1970 war der Anteil der berufstätigen Frauen diesseits und jenseits des Atlantiks gleich hoch, aber zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist Erwerbsarbeit für Amerikanerinnen normal, während sie für deutsche Frauen noch immer den Haushaltserfordernissen untergeordnet ist.

Ist Deutschland auf dem amerikanischen Weg? Der Wunsch zu arbeiten ist auch in Deutschland hoch. Mehr als die Hälfte der nicht berufstätigen deutschen Frauen möchte in Zukunft einen Job annehmen. Aber die Realisierung dieser Wünsche ist schwierig, weil Angebot und Nachfrage sich gegenseitig bedingen. Der Berufswunsch der Mutter kann nur realisiert werden, wenn die außerschulische Kinderversorgung möglich ist, aber diese wird privatwirtschaftlich nur organisiert, wenn genügend Nachfrage zu erwarten ist oder wenn politisch solche Angebote befördert werden, wie dieses mit der Verpflichtung für alle Kinder unter drei Jahren einen Kindergartenplatz bereitzuhalten geschehen ist.

Ist eine Gesellschaft auf die Bereitstellung von Dienstleistungen statt auf Eigenarbeit orientiert, so werden auch mehr Alternativen zur Haushaltsproduktion entwickelt, die wiederum die Attraktivität der Erwerbsarbeit erhöhen. Es gibt mehr Schnellrestaurants, die fertige Mahlzeiten anbieten, Tiefkühlschränke nehmen große Flächen in den Supermärkten ein, Angebot und Nachfrage verstärken sich gegenseitig. Wird nachschulische Kinderbetreuung angeboten, weil viele Mütter berufstätig sind, so eröffnen sich für Mütter neue Möglichkeiten, Barrieren zur Annahme eines Jobs werden vermindert, was wiederum zu einer Ausweitung der Berufstätigkeit führt. Ökonomen sprechen von einem "thick market" (dichter Markt), ein Markt, in dem viele Transaktionen stattfinden, ein Markt mit einem großen Angebot und hoher Nachfrage, der sich deshalb durch eine hohe Flexibilität auszeichnet. Susan Smith hat es auch deshalb leichter, eine nachschulische Betreuung für ihre Kinder zu finden als Karin Kunze, weil sich ihr in der auf Marktleistungen ausgerichteten amerikanischen Ökonomie zahlreiche Alternativen zur Eigenversorgung bieten.

Karin Kunze sieht sich dagegen einem "thin market" (dünner Markt) gegenüber, in dem Angebot und Nachfrage niedrig sind. Sie hat es nicht leicht, sich am Erwerbsleben zu beteiligen, wenn sie ein schulpflichtiges Kind hat. Es ist aufwändig für sie, überhaupt außerschulische Kinderbetreuung zu finden, und wenn sie sie findet, werden die Kosten kaum geringer als ihr Verdienst sein. Selbst wenn sie eine akademische Ausbildung hat, wird ihr Nettolohn kaum über den Bruttoarbeitskosten der Erzieherin liegen. So wird Karin Kunzes Entscheidung eher gegen Erwerbstätigkeit und Marktversorgung und für Haushaltsproduktion ausfallen.

Berufstätige fördern die Wirtschaft

Will man von einer Situation mit niedriger Erwerbsbeteiligung und einem hohen Anteil von Haushaltsproduktion zu einer Situation mit hoher Erwerbsbeteiligung und einem hohen Anteil von Marktversorgung kommen, so sind vor allem soziale Barrieren abzubauen und die Berufstätigkeit von Müttern zu erleichtern.

Ein zunehmender Anteil akademisch ausgebildeter Frauen mit kontinuierlichen Erwerbskarrieren, die den Aufstieg in höhere Einkommensklassen ermöglichen, führt direkt zu einer Expansion der Dienstleistungsnachfrage. Im Haushalt verrichten hoch qualifizierte Frauen Tätigkeiten, die bei Arbeitsteilung und erwerbsmäßiger Organisation dieser Tätigkeiten auch von geringer qualifizierten Arbeitskräften ausgeführt werden könnten.

Vor dem Hintergrund eines drohenden Mangels an hoch qualifizierten Arbeitskräften ist ein großes ungenutztes Potenzial hoch qualifizierter Frauen sicher ein Effizienzverlust für die Volkswirtschaft. Gefordert ist keinesfalls die Absenkung von Sozialleistungen oder eine Absenkung der unteren Lohngruppen, sondern vielmehr eine Entlastung von Lohnnebenkosten am unteren Ende der Lohnskala. Die Anreize auf der Angebotsseite sind wichtig, aber sie sind nicht ausreichend, um die notwendige Dynamik hervorzubringen. Hierzu bedarf es auch der Entwicklung der Nachfrageseite.

Solange Frauen in Deutschland der Zugang zu hoch bezahlten Jobs weitgehend verschlossen bleibt, solange werden auf die Angebotsseite zielende Maßnahmen nur begrenzten Erfolg haben.

Richard B. Freeman, Ronald Schettkat

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