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Mann für Epiphanien. Denis Johnson 2003 im Berliner Hotel Savoy.

© Imago/Götz Schleser

Verstorbener Starautor: Schöner Scheitern: Erzählungen aus dem Nachlass von Denis Johnson

Poetisch bis gnadenlos: Rowohlt veröffentlicht fünf meisterhafte Erzählungen aus dem Nachlass des Schriftstellers Denis Johnson.

Was ist es, das Leben? Genauer gefragt: Was ist es gewesen? Bill Whitman, Werbefachmann, einerseits erfolgreich, andererseits kein Mann an der Spitze und von Rückenschmerzen geplagt, weiß, dass die Antwort nicht aus Schlichtsätzen besteht, sondern sich in den Epiphanien einzelner Momente offenbart. Zu Fragmenten, nicht weiter bringt es der Mensch, und ebensowenig die Literatur. Sie tritt nicht an, um die Splitter zusammenzuleimen. Aber welchen Glanz die Splitter verbreiten können, welche Wärme, Düsternis und Nähe!

„Heute Morgen wurde ich von einer solchen Traurigkeit über das Tempo des Lebens übermannt – die lange Wegstrecke, die ich seit meiner Jugend zurückgelegt habe, die anhaltende Reue wegen alter Geschichten, die Reue wegen neuer Geschichten, die Tatsache, dass das Scheitern imstande ist, immer wieder andere Formen anzunehmen –, dass ich fast den Wagen zu Schrott fuhr.“ So beginnt der dritte „Moment“ der Titelerzählung, und der Leser hat da schon begriffen, dass kein Jammertier spricht, sondern ein Tüchtiger, der ein paar Erinnerungen Revue passieren lässt.

Die Mühelosigkeit des geborenen Erzählers

Die sind teils schauerlich in ihrer Peinlichkeit (gleich die erste), andere bezeugen die illusionslose Sicht dessen, der weiß, dass die Ziellinie näher rückt. Einmal meldet sich eine weit entfernte, undeutliche Frauenstimme am häuslichen Telefon, um von ihrem Sterben zu berichten und dem zerknirschten Whitman seine lange zurückliegenden Fehler vorzuhalten, und als ob das nicht genug des Schreckens wäre, ist die Verbindung so schlecht, dass er nicht erkennen kann, ob er mit seiner ersten Frau spricht oder doch mit der zweiten, und schmerzverwirrt nach der dritten ruft …

Shit happens, jederzeit, überall, als unbeherrschbarer Mix aus Groteske und Einsicht, aber am Ende überwiegt dann doch eine vage Dankbarkeit für die mythische Meerjungfrau, die die Schicksalsgaben verteilt, weil man, insgesamt gesehen, halbwegs heil davongekommen ist. Denis Johnson, 1949 als Sohn eines amerikanischen Offiziers in München geboren, veröffentlichte neun Romane und wurde 1992 berühmt durch den Kurzgeschichtenband „Jesus’ Son“, in dem es von Drogensüchtigen, Losern und Kriminellen wimmelt, den Dreckigen eines dreckigen Milieus, in das Johnson abgesackt war. „Die Großzügigkeit der Meerjungfrau“ enthält fünf längere Erzählungen aus dem Nachlass, meisterhaft wie die frühen, aber gedämpfter im Ton. Die Wörter strömen leicht; effektiv und präzise sind die Schnitte gesetzt, die Schilderungen verteilt, die Personen gezeichnet. Ein Großer ist am Werk, dessen Können nie gefeilt oder gesucht wirkt. Johnson hat Creative Writing studiert und unterrichtet, aber seine Prosa atmet die Mühelosigkeit des geborenen Erzählers.

Reiche Tonlagen und mitreißende Bilder

Nicht alle Geschichten klingen so milde aus wie die erste. Johnson stürzte sich früh in destruktive Erfahrungen, lebte am und im Abgrund. Die zweite Erzählung spielt im „Stardust“, einst der Name eines Etablissements, wo man sich ins Glück schießen konnte, nun eine eher schäbige therapeutische Einrichtung. Der junge Erzähler nimmt am Entzugsprogramm teil und schreibt nebenbei Briefe an mögliche und unmögliche Empfänger. „Lieber Satan, … ich bin hier, um mich zu ändern oder bei dem Versuch zu sterben … Ich bin zu nah an den Rand geraten und rausgeschleudert worden … Ich geh in das Zimmer hier und und mach die Tür hinter mir zu und schon bin ich allein mit jemandem, der gar nicht da ist.“

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„Stardust“ ist nicht der hellste Stern des Buches und reizt den Leser dennoch. Allein im Zimmer zu sein mit einem Selbst, das nicht da ist – man muss kein Junkie sein, um sich so zu fühlen. Johnson beherrscht die Sprachregister von poetisch bis gnadenlos, von lakonisch bis verschwenderisch. Die sensible Übersetzung von Bettina Abarbanell bewahrt den Reichtum der Tonlagen, die mitreißenden Bilder. Die vierte Geschichte, neben der ersten das Glanzstück, erzählt von einer Freundschaft, die eigentlich nur ein Verlangen nach Freundschaft ist und voller Widersprüche und darum wahr bis auf den Grund. So ist es, so ist es nicht; und ob von irgendwoher eine Instanz höherer Art ein paar Signale dazu sendet, bleibt offen.

Die Kritik hat sich vor dem kürzlich verstorbenen Schriftsteller verbeugt

Als Denis Johnson im Mai letzten Jahres starb, verbeugte sich die Kritik, als hätte erst der Tod die monumentale Statur dieses Schöpfers enthüllt. Auf einigen Fotos wirkt er vital wie ein Boxer, auf den letzten fast zart. Den Nachruf der „New York Times“ schmückt ein Bild, das ihn mit 26 an seinem Schreibtisch zeigt, so schön und in sich versunken, als warte er auf eine zauberische Stimme. Die Meerjungfrau hat ihn üppig beschenkt.

Denis Johnson: Die Großzügigkeit der Meerjungfrau und andere Erzählungen. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt, Reinbek 2018. 224 S., 24 €.

Gisela Trahms

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