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Kultur: Verzollte Fiktionen

Auf den Spuren von Julio Cortázar: Ein Kunstprojekt führt zu Autobahnraststätten rund um Berlin

Was der Astronaut auf der Internationalen Raumstation und die Giraffe im Schatten des Akazienbaumes findet, das bietet dem automobilen Menschen die Raststätte. Sie ist der archimedische Punkt, von dem aus sich Umlaufbahn, Wildbahn und Autobahn aushebeln lassen. Jedenfalls gelang dies dem argentinischen Schriftsteller Julio Cortázar. Anno 1982 verbrachte er tausende Stunden auf der Autobahn Paris-Marseille, ohne je anzukommen. Mit seinem zerbeulten VW-Bus, einem drachenhaften Gefährt namens Fafnir, klapperte er jede einzelne Raststätte ab; auf jeder zweiten wurde übernachtet: fahren, um zu rasten. Don Quixote focht gegen Windmühlen, Cortázar schlug die Zeit mithilfe von Raststätten tot. In einer pikaresken Umkehrung machte er den Transit zu seinem dauerhaften Wohnsitz.

Ein Vierteljahrhundert später nimmt nun ein Reisebus der Universität der Künste die Verfolgung Cortázars auf: Anstatt sein Logbuch „Die Autonauten auf der Kosmobahn“ auf die Bühne zu bringen, ließ man es einfach auf der Straße liegen. Wer das Kunstprojekt der KlangKunstBühne Berlin unter der Leitung von Daniel Ott sehen will, muss eine Reise in die Berliner Raststättenlandschaft buchen: Straßentheater rund um das Dreieck Nuthetal. Die Aufführungsdauer von fünf Stunden variiert je nach Verkehrslage. Fensterplätze kosten extra. Und wer aussteigen will, muss zu Fuß heimkehren.

Wo Theater anfängt und wo es aufhört, lässt sich auf dieser Exkursion kaum noch sagen: Der Unfall da vorne, ist der echt? Hat die Regisseurin überhaupt einen Führerschein? Warum räuspert sich der Sprecher vom Verkehrsfunk immer so geheimnisvoll?

Überall geschehen die merkwürdigsten Dinge. Als wäre die Autobahn südlich von Berlin wirklich jene „Südliche Autobahn“, auf der Julio Cortázar in seiner phantastischen Asphaltliteratur unterwegs ist. Da taucht ein VW-Bus auf, der genau so aussieht wie Cortázars legendäres Drachengefährt. Prompt wird er an der Zollstation Dreilinden angehalten, um von DDR-Grenzern gefilzt zu werden: „Haben Sie Fiktionen zu verzollen?“

Auch der eigene Bus wird einem im Lauf der Fahrt immer suspekter. Dass er von der „düsentrieb gmbh“ sein soll, klingt jedenfalls recht unglaubwürdig. „Der Fiktion hinterherfahren, um sie an geeigneter Stelle zu überholen“, nennt das Dramaturgin Jutta Wangemann. Oft müssen nur Kleinigkeiten verrückt werden, um Raststätten in Theaterbühnen zu verwandeln. Auf einigen von ihnen haben die Künstler kleine Nester mit Holzpapageien installiert. In Michendorf Nord etwa ist man von hölzernen Paradiesvögeln regelrecht umzingelt. Sie wurden vom Raststättenbetreiber selbst aufgestellt.

In der Peripherie der Berliner Autobahngastronomie fühlt man sich wie auf einer Expedition in ferne Welten. Dass man eigentlich nie ankommen kann, wenn man immer nur von Anders-Ort zu Anders-Ort unterwegs ist, versteht sich. Mitten auf dem Weg glaubt man sich dann aber doch am Ziel. Da wird keine Rastplatz, sondern eine letzte Ruhestätte angesteuert, ein Auto-Friedhof. Wem die Trauerprozession folgt, die hier den Verkehr blockiert, weiß man nicht. Vielleicht ist es ja der argentinische Autobahnmeister selbst, der hier zu Grabe getragen wird. Von seiner Expedition war Julio Cortázar einst nur zurückgekehrt, um sich gleich wieder zu verabschieden: Dass sein Tod 25 Jahre später, 2500 Kilometer weiter nördlich einen Stau auslösen sollte, kann als sein größtes Schelmenstück gelten.

Wieder am 2.-6.10., Abfahrt 17 Uhr, Parkplatz Bundesallee 1-12, Voranmeldung erforderlich: 030-78703350

Kaspar Renner

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