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Kultur: Vierzehn Folgen sind ein Tag

Nach 27 Jahren wird Fassbinders Filmopus „Berlin Alexanderplatz“ neu entdeckt – als Installation in den Kunst-Werken

Die typische Szene 1980 im deutschen Wohnzimmer hat Klaus Biesenbach geschildert: Die Familie versammelt sich erwartungsfroh vor dem Fernseher, dessen Bildschirm sich, wie damals üblich, nach vorn wölbt. Peer Rabens Titelmelodie zu „Berlin Alexanderplatz“ erklingt, doch auf der Röhre sieht Familie Biesenbach zumeist: sich selbst. Und die Reflexion der Wohnzimmereinrichtung mit Stehlampe. Das Fernsehbild selbst bleibt dunkel. Nach der ersten Szene steht das elterliche Verdikt: zu gewalttätig für die Vorweihnachtszeit. „Ab der zweiten Folge sah ich die Serie auf einem alten, ausrangierten Schwarzweißfernseher, der bei uns im Keller stand. In meiner Erinnerung ist ,Berlin Alexanderplatz’ deshalb immer ein Schwarz-Weiß-Film gewesen“, so Biesenbach im Rückblick.

Nicht nur Klaus Biesenbach wird „Berlin Alexanderplatz“ als Schwarz-WeißFilm in Erinnerung gehabt haben. Unzureichende Übertragungstechnik, schlechtes Filmmaterial, eine durch negative Vorabpresse aufgehetzte Öffentlichkeit: Bei der Erstausstrahlung im Dezember 1980 entstand der Eindruck eines missglückten Filmexperiments. Und der Mythos von einem Meisterwerk, das jeder zu kennen meint, die wenigsten jedoch gesehen haben: „Berlin Alexanderplatz“ wurde jahrzehntelang nicht gezeigt.

Die Wiederaufführung der restaurierten Fassung 27 Jahre später gleicht daher einer nachgeholten Premiere: Nicht nur sind die Bilder durch Restaurierung und Digitalisierung überarbeitet und aufgehellt. Es ist vor allem in der Tat ein Farbfilm zu entdecken. Und zwar einer mit ausgesprochen raffinierter Lichtregie. Spiegel und Kerzen erhellen den Raum, Neonleuchten blinken durchs Fenster, Fassbinder drehte durch Mattglas, Nebel, Rauch, Goldstaub oder Aquarien. Manchmal zog er sogar einen Nylonstrumpf über die Kamera, um ein besonders opakes Licht zu erhalten. „Die Welt damals, 1929, war nicht so hell wie heute“, erläutert Fassbinders Lebensgefährtin und langjährige Cutterin Juliane Lorenz. Und wenn Kameramann Xaver Schwarzenberger davor spricht, mit Farbmaterial einen Schwarz-Weiß-Film gedreht zu haben, meint er vor allem: Tiefenschärfe. Lange Schatten. Experimente mit Licht und Dunkelheit, wie sie den expressionistischen Schwarz-Weiß-Film in der Entstehungszeit der Romanvorlage von Alfred Döblin auszeichneten. Dunkelheit: das ist kein Armutszeugnis, vielmehr ein Plus an künstlerischer Ausdrucksform.

Auf der diesjährigen Berlinale war die rekonstruierte Fassung erstmals zu sehen: als Gala-Event mit rund dreißig damals Beteiligten, von Günter Lamprecht über Hanna Schygulla bis zu Elisabeth Trissenaar – selten hat man Filmgeschichte so vital, so monumental live erleben dürfen. Bei der En-Suite-Vorführung in der Volksbühne, von zehn Uhr morgens bis drei Uhr nachts, hielten über 500 Zuschauer durch und wurden von Juliane Lorenz mit Champagner belohnt.

Nun ist der Film in den Kunst-Werken zu sehen: in einer kongenialen Rauminstallation. Spielt doch Fassbinders – auf dem Bavaria-Gelände in München-Geiselgasteig gedrehter – Berlinfilm keineswegs am Berliner Alexanderplatz, sondern zumeist in klaustrophobisch engen Innenräumen oder in einem Hinterhof. Also hat man in die große Halle der Kunst-Werke eine Hofsituation aus Sperrholz gebaut, umgeben von 14 Kammern, in denen je eine Filmfolge gezeigt wird. Vom Hof aus sieht man die Projektionsflächen der Kammern wie Fenster, auf denen man alle Episoden nebeneinander verfolgen kann – um sich dann zu entscheiden, welche Episode man ganz sehen will: ein grandioser Simultaneffekt. Die Bühnenhaftigkeit von Fassbinders Film, auch das Voyeuristische finden hier ihre Entsprechung – nicht umsonst denkt man an die Bühnenbilder der Volksbühnen-Inszenierungen. Luxuriöser, adäquater wird man das 939-Minuten-Werk wohl nie wieder geboten bekommen.

Fünfzehneinhalb Stunden Filmdauer schrumpfen in der Simultansicht auf immer wiederkehrende Motive zusammen: die Innenräume, der Straßenzug, die U-Bahnhöfe. Und natürlich die Großaufnahmen, Gottfried Johns kantiges Gesicht, sein langer Blick über die Schulter, Hanna Schygullas Eleganz, Barbara Sukowas kindlich-zarte Gestalt, die so sehr an Fritzi Haberlandt erinnert, und natürlich Günter Lamprechts massiger Körper, diese Mischung aus Bauernschläue, Naivität, arglosem Vertrauen und plötzlicher Gewalttätigkeit. Fassbinders Film lebt von den Schauspielern, von den Charakteren mehr als von den Räumen. Nicht die Großstadt Berlin steht im Mittelpunkt, sondern ihre ums Überleben kämpfenden Bewohner: „Die bis zur Mittelmäßigkeit Entblößten mit allergrößter Zärtlichkeit zu sehen, sie zu lieben am Ende“, diese Döblin’sche Fähigkeit hat Fassbinder fasziniert. Sie gilt, bei aller Brutalität, auch für seinen Umgang mit den Menschen und mit der Welt.

Dass das Filmmonument nun nicht im Fernsehen oder Kino, sondern im Museum besichtigt werden kann, hat seine Konsequenz. Nicht nur überschreitet Fassbinder vor allem im visionären zweistündigen Epilog selbst jede Grenze zwischen Film und Kunst, auch Künstler berufen sich regelmäßig auf den großen, vor allem im Ausland verehrten Filmregisseur. Er habe sich inzwischen angewöhnt, jeden Künstler nach seinem „Fassbinder-Werk“ zu fragen, erklärt der als Kurator am New Yorker MoMA wirkende Biesenbach, der für sein Herzensprojekt nach Berlin zurückgekehrt ist. Von Doug Aitken bis Douglas Gordon, von Jeff Wall bis Jonathan Meese und Christoph Schlingensief können fast alle ein „Fassbinder-Werk“ vorweisen.

Auguststr. 69, bis 13. Mai. Di bis So 12 bis 19 Uhr, Do bis 21 Uhr. Katalog 646 Seiten, 40 Euro. Parallel veranstaltet das Arsenal eine Fassbinder-Reihe.

Christina Tilmann

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