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Kultur: Virtuose Prahlereien

Der englische Barock-Paganini Andrew Manze ist viel zu selten in Berlin.Dafür haben ihn die Musikfestspiele Potsdam-Sanssouci jetzt gleich mit zwei Programmen eingeladen.

Der englische Barock-Paganini Andrew Manze ist viel zu selten in Berlin.Dafür haben ihn die Musikfestspiele Potsdam-Sanssouci jetzt gleich mit zwei Programmen eingeladen.Berliner Klassik war im Geburtsschloß des komponierenden Preußen-Prinzen Louis Ferdinand in Friedrichsfelde am Ostrand der Stadt zu hören.Im Jaspissaal der Neuen Kammern von Sanssouci begab sich Manze mit seinen Continuo-Partnern Nigel North und John Toll dann auf jenes Gebiet, für das er weltweit als einer der führenden Interpreten gefeiert wird: die Musik aus dem Habsburger-Reich vom Ende des 17.Jahrhunderts.Die von exzentrischen Violin-Virtuosen gepflegte Solo-Sonate hatte damals noch eine viel offenere Form als in der späteren Klassik.Was an Noten auf uns gekommen ist, diente den Komponisten-Virtuosen oft bloß als Gedächtnisstütze für improvisierte Abschweifungen und virtuose Prahlereien größten Stiles.Andrew Manze - für diese ausgestorbene Fremdsprache der Musik mit einem Siebten Sinn ausgestattet - spielt das auf volles Risiko und reizt das improvisatorische Moment bis an die Grenze aus.Dabei stehen ihm Techniken zur Verfügung, die heute längst nicht mehr geläufig sind: ein anschwellendes Portamento verleiht der vierten der "Sonatae unarum fidium" (Sonaten für ein Streichinstrument) des Wiener Hofkapellmeisters Johann Heinrich Schmelzer einen Schwung ohnegleichen; der Triller auf demselben Ton in der fünften der acht Sonaten für Violine solo von 1681 des Salzburger Exzentrikers Heinrich Ignaz Biber imitiert einen alten Gesangseffekt; die Stretta, ein exponential beschleunigtes Accelerando, das keine andere Grenze zu kennen scheint als den Schlußton in einer Sinfonia cantabile aus dem Opus IV des am Habsburger-Hof zu Innsbruck wirkenden Giovanni Viviani prahlt mit exhibitionistischer Fingerfertigkeit.Auf solche die Hörer buchstäblich in Atem haltenden Finessen kommt es bei dieser Art von Literatur an.Der mit Steinplatten verkleidete Jaspissaal brachte sie optimal ans Ohr der Hörer, und Nigel North und John Toll, die einen ungemein impulsiven, auch solistisch vielfach belebten Generalbaß aus nichts als den nackten Grundnoten ad hoc improvisierten, trugen zu der mitreissenden Frische dieser barocken Jam Session bei.

BORIS KEHRMANN

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