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Kultur: Vision und Revision

Caroline Fetscher über eine Berliner EuropaDebatte mit Jürgen Habermas Vom Himmel werde sie nicht fallen, die attraktive Vision für ein geeintes Europa. Das hatte der Philosoph in seinem mit Jacques Derrida Ende Mai publizierten Traktat verkündet.

Caroline Fetscher über eine Berliner EuropaDebatte mit Jürgen Habermas

Vom Himmel werde sie nicht fallen, die attraktive Vision für ein geeintes Europa. Das hatte der Philosoph in seinem mit Jacques Derrida Ende Mai publizierten Traktat verkündet. Vom Himmel fällt für säkulare, kritische Denker ohnehin nichts: Alles Neue will erarbeitet werden, in Reflexion und Austausch. Der hat beim Thema Europa erst begonnen. Also bat Adolf Muschg, Schriftsteller, Schweizer und frisch gewählter Präsident der Berliner Akademie der Künste, am Freitagabend zur Debatte mit Jürgen Habermas, im Zeichen der noch ein wenig ratlos klingenden Frage: „Europa – wohin?“ Vom Himmel fiel jedenfalls Sonnenschein auf die Wartenden, die um Karten Schlange standen. Erstaunlich viele junge Leute pilgerten zum Hanseatenweg, so viele, dass kaum alle in den großen Saal passten. Es mag für eine europäische Identität noch keine anziehende Vision geben, zweifellos ist immerhin die Suche nach ihr schon eine Attraktion.

Eine Akademie als Agora der Gedanken zur Gegenwart, das wird Adolf Muschg vorgeschwebt haben, der ein heterogenes Podium moderieren musste. Neben dem Postnationalisten Habermas fanden sich der Restnationale Wolfgang Schäuble, ebenfalls beseelt von dem Wunsch, Deutschland solle ein Teil der europäischen Föderation werden, doch dabei „deutsch bleiben“ (wie Frankreich französisch), die Juristin und Präsidentin des Goethe-Institutes, Jutta Limbach, die in Europas gelingender Föderation ein Modell für andere Kontinente aufscheinen sieht, und der streitbare Gast aus dem Nachbarland Polen, Zdislaw Krasnodebski, Kulturwissenschaftler, Professor für Polonistik in Bremen – und Neu-Europäer.

Mit „einem Paukenschlag“ habe die konzertierte Mai-Aktion der alteuropäischen Intellektuellen „auf eine geschichtliche Fälligkeit aufmerksam gemacht“, erklärt Muschg zu Beginn. Wer sind „wir Europäer“? Wovon speist sich dieses Gefühl, „zurück nach Europa“ zu kommen, wenn man den Kontinent verlassen hatte? Ein Gefühl, von dem Habermas erklärt, es müsse „politisiert“ werden, in Worte gefasst. Doch der Weg zu den Worten scheint noch weit. „Europa – wo?“, das wäre wohl der treffendere Titel gewesen, denn vor allen anderen zog sich die Frage der Exklusion oder Inklusion als roter Faden durch die Diskussion. Dazu hatten die Initiatoren der Debatte selbst den Anlass geliefert, als sie von einem „Kerneuropa“ sprachen, das, käme es erst einmal zu sich, als Motor eine Sogwirkung auf die Anderen ausüben würde. Hier witterte der polnische Gast, gestenreich argumentierend, eine Randrolle für sein Land. Ganz dem Diktum Donald Rumsfelds von „Old Europe“ und „New Europe“ folgend, hätten die West-Intellektuellen nur den Spieß umgedreht. Dem unilateralen Hegemon, den USA, habe die europäische Avantgarde einfach einen anderen gegenübergestellt: Kerneuropa versus Randeuropa. Nein, an diesem semantischen Saum will Zdislaw Krasnodebski sich nicht angesiedelt wissen. Wolfgang Schäuble nickt und lächelt. Habermas erklärt den „Kern“ als Metapher. Natürlich muss es die Einbeziehung der Anderen geben, denn „ohne Prag, Budapest und Warschau ist Europa nicht vorstellbar.“ Aber jemand muss nun mal die Initiative ergreifen, das hatten hier die „Kernländer“ von Old Europe geleistet. Warum? Erst Amerikas unilateralen Ausflüge ins weltweite Aufräumen führte vor Augen, dass Europa eine gemeinsame Außenpolitik fehlt. Welche Hoffnung hatten wir den Inhaftierten und Gefolterten der Kleptokratie unter Saddam Hussein geboten? Keine. Da setzte die Offensive der Denker ein – als Reaktion, aus der jetzt selbstständige Aktivität werden soll. Antiamerikanisch will sich Habermas nicht nennen lassen – keiner auf dem Podium, übrigens. Dieser einen, forschen Regierung gilt seine Kritik, nicht Amerika im Ganzen. Applaus.

Zdislaw Krasnodebski allerdings sieht in Bushs Team weniger Makel als etwa Jutta Limbach oder Habermas. Beten im Amt, warum nicht? Schließlich hat die Kirche Polens Widerstand gegen die Diktatur gestärkt. Nationalismus? Der wurde unter den Kommunisten unterdrückt. Sympathie für US-Besatzer? Gott, wäre Polen gern von den demokratischen USA besetzt worden, nach 1945. „Psychologisch“ kann auch Jürgen Habermas das verstehen, mit seinem weiten Geist. Westeuropa hat lange gebraucht, bis es säkular wurde und sich nun auf der Schwelle zur Föderation sieht. Ausgerechnet in diesem Augenblick kommt Osteuropa hinzu, und das schafft Spannungen, die nur mit politischem Takt und Empathie zu lösen sind. Nach dem Eisernen Vorhang, das bewies dieser Abend, muss die mentale Gazegardine fallen, damit „Old and New“ einander klarer sehen.

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