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Kultur: Visionen aus dem Fegefeuer

Mahlers unvollendete "Zehnte" wurde in jüngster Zeit von verschiedenen Berliner Orchestern unter Leitung von Simon Rattle, Daniel Harding und Eliahu Inbal gespielt. Nun nahm auch die Staatskapelle die Mahlersche Fis-Dur-Sinfonie in der Konzertfassung von Deryck Cooke in Angriff.

Mahlers unvollendete "Zehnte" wurde in jüngster Zeit von verschiedenen Berliner Orchestern unter Leitung von Simon Rattle, Daniel Harding und Eliahu Inbal gespielt. Nun nahm auch die Staatskapelle die Mahlersche Fis-Dur-Sinfonie in der Konzertfassung von Deryck Cooke in Angriff. Am Pult stand der renommierte Mahler-Dirigent Michael Gielen.

Wie eben erst bei Schrekers "Fernem Klang" in der Staatsoper, rückt er auch dieser Ausnahmepartitur, die so lange als ein Buch mit sieben Siegeln galt, mit der ihm eigenen artifiziellen Deutlichkeit und bisweilen auch aggressiven Schärfe zu Leibe - und erreicht eine überraschend aufgehellte, glasharte Deutung. Bereits im Adagio ist man tief beeindruckt, wie Gielen nicht einseitig den Mahlerschen Wunderklang zu Tage fördert, sondern das Ganze auch psychologisch durchleuchtet und konsequent die verzweifelt selbstquälerischen Klanggesten, die auf Alban Berg weisenden katastrophischen Visionen herausarbeitet, die Mahler ein Jahr vor seinem Tod formulierte.

Dabei werden selbst die dissonanten Ballungen und heftigen Ausbrüche in den beiden Scherzi oder dem Finale nicht naturalistisch aufgedonnert, sondern mit schmerzhafter Klarheit und dramaturgischer Folgerichtigkeit in das Ganze eingebaut. Gielen zieht, ebenso scharfkantig wie spannungsvoll nuanciert, einen erstaunlichen Bogen über die gewiss recht heterogenen und von der kompositorischen Substanz auch etwas unterschiedlichen fünf Sätze. Da werden selbst kleinste Figuren im kurzen "Purgatorio" mit bissigem Klangleben und Drive erfüllt. Insgesamt gewinnt das autobiographisch umschattete Werk eine zeitnahere Umrissschärfe als in manch anderer Interpretation.

Geradezu hautnah übertragen sich die sensualistischen Reize, die schaurigen Mahlerschen Brechungen und Stauungen. Die Staatskapelle mit ihren exzellenten Solisten tritt mit fesselnder Differenzierung und nicht nachlassender dramatischer Intensität in Aktion. Gielen und die Musiker der Lindenoper bringen diese noch immer geheimnisumwitterte Sinfonie mit äußerster Akribie und Fingerspitzengefühl zur Aufführung. Sie wirkt an diesem Abend im Konzerthaus über weite Strecken allerdings nicht nur ungewöhnlich grell und fahl, rau und rissig, sondern auch durchdrungen von großer menschlicher Empfindung und Hoffnung.

Eckart Schwinger

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