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Kultur: Vittorio Hösle: Neue Aufsatzsammlung "Die Philosophie und die Wissenschaften" auf der Suche nach der absoluten Vernunft

Vittorio Hösle galt als philosophisches Wunderkind. Wer mit 21 Jahren einen dicken Wälzer über Philosophie und Geschichte hinlegt und sich im jungen Alter mit der Geschichte der Philosophie vermutlich besser auskennt als die meisten anderen auf der Welt, durfte mit Recht so genannt werden.

Vittorio Hösle galt als philosophisches Wunderkind. Wer mit 21 Jahren einen dicken Wälzer über Philosophie und Geschichte hinlegt und sich im jungen Alter mit der Geschichte der Philosophie vermutlich besser auskennt als die meisten anderen auf der Welt, durfte mit Recht so genannt werden. Sein Buch über "Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie" (1990) gehört in meinen Augen zu den besten, jedenfalls zu den vielversprechendsten Büchern, die die deutschen Philosophie in jüngerer Zeit hervorgebracht hat. Hösle schreibt sehr klar, ist ungemein gebildet, die philosophischen Probleme sind immer deutlich, und er hat, man kann es kaum genug loben, einen systematischen Ansatz. Die meisten seiner Aufsätze und Bücher liest man mit Gewinn; sie sind allemal mehr wert als das, was die meisten deutschen Philosophen hervorbringen, schon deswegen, weil er gegen den relativistischen Zeitgeist schwimmt. Doch ein Wunderkind ist er nicht mehr. Dafür ist Hösle, relativ gesehen, natürlich zu alt. Und dafür hat er weniger geleistet, als er versprochen hatte.

Sein philosophisches Programm "der objektive, neohegelianische Idealismus" ist zwar in den oberen Stockwerken schon ausgebaut (etwa jüngst durch ein umfangreiches Werk über "Moral und Politik"). Aber das Fundament ist wacklig. Auch die jüngste Aufsatzsammlung leidet an diesem Mangel. Es geht, so der Titel, um die Philosophie und die Wissenschaften; die Aufsätze seien "Bausteine zu einer theoretischen Philosophie". Doch davon kann leider keine Rede sein. Hösle schreibt richtig, dass der Wahrheitsanspruch der modernen Natur- und Sozialwissenschaften durchaus der Rechtfertigung bedürfe. Wir leben in einem Zeitalter, in der die Physik, besonders aber die Biologie (und in ihr die Genetik und Neuropsychologie) das Bild von der Welt und vom Menschen noch viel stärker bestimmen, als es in den letzten dreihundert Jahren ohnehin der Fall gewesen ist.

Eine naheliegende Frage ist natürlich, wie es um den Wahrheitsgehalt der Wissenschaften steht. Damit ist nicht nur das alte Problem gemeint, ob Induktion ein legitimes Begründungsverfahren ist oder welche Rolle die Erfahrung spielt. Man muss viel radikaler fragen, ob den natur- und sozialwissenschaftlichen Theorien in der Realität tatsächlich etwas entspricht: Ist Wasser H20? Gibt es Elektronen? Gab und gibt es überhaupt so etwas wie eine natürliche Evolution? Solche Fragen werden unter dem Stichwort "Realismus-Antirealismus-Debatte" abgehandelt. Dazu gehören auch ganz wesentlich Fragen der Wahrheitstheorie und Semantik. Zu all dem findet man in Hösles Buch fast nichts. Im Gegenteil, Hösle beginnt mit der Prämisse, am faktischen Gehalt der Wissenschaften (insbesondere der Biologie) "keine Zweifel" zu hegen. Er interessiert sich fast ausschließlich für die Frage, ob naturalistische Reduktionismen haltbar sind, und seine Antwort ist immer die gleiche: Es gibt eine "Sphäre reiner Geltungen", besonders in der Ethik, die unhintergehbar ist und die von den Wissenschaften selbst vorausgesetzt wird, ohne daß sie die Geltungssphäre begründen könnten - das ist die Aufgabe der Philosophie. Dem ist im Prinzip zuzustimmen. Aber erstens muss gezeigt werden, daß es einen solchen idealen Seinsbereich absoluter Vernunft - darauf läuft es hinaus - tatsächlich gibt. Davon ist Hösle aber weit entfernt; sein Beweis der Letztbegründung ist in der bisher vorliegenden Form unhaltbar.

Seine ganze Philosophie hängt letztlich von dem Grundgedanken reflexiver Begründung ab. In seinem Buch über "Moral und Politik" hat Hösle selbst eingeräumt, ständig Dinge vorauszusetzen, die er nirgends entwickelt habe. Das müde Lächeln, das seine Schriften zuweilen hervorrufen, hat er durch diesen Grundfehler selbst zu verantworten. Zweitens aber bedarf es in Hösles Philosophie dringend einer eigenen Wissenschaftstheorie. Denn selbst wenn der Nachweis gelingen sollte, daß es letztbegründete Sätze gibt und dass diese Sätze zugleich im Sinne eines objektiven Idealismus zu verstehen sind, ist damit über den Wahrheitsanspruch der Wissenschaften wenig gesagt - der letztbegründete Satz "Es gibt Wahrheit" beweist durchaus nicht, dass man im Sinne des Realismus tatsächlich annehmen darf, dass Wasser H2O ist.

Auch abgesehen von diesen Grundmängeln ist die Aufsatzsammlung eher enttäuschend (alle Aufsätze sind anderorts bereits erschienen und zumindest ihre Grundgedanken in anderen Schriften zu finden). Es ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, dass Hösle seine Ausführungen in einen historischen Kontext stellt. Aber viele seiner Ausführungen über Nietzsche, Spinoza, Vico und andere Geistesgrößen sind extrem kurz und oberflächlich. Man darf fragen, was solche Spaziergänge sollen; der logische Status seiner Kritik am Naturalismus ist davon ohnehin nicht tangiert. Wie sein Stammvater Hegel liebt auch Hösle die große Geste und dem umfassenden Blick. Und wie bei Hegel bringt das uneingelöste Versprechen und historische Verzerrungen mit sich. (Von einer "Logik der Geschichte der Soziologie" zu sprechen ist anmaßend, wenn dann nur gezeigt wird, daß einige prominente Vertreter dieser Disziplin sich zunehmend von der Geltungsfrage verabschiedet haben). Auch manches andere sind Gemeinplätze unter Hösles Niveau. Im Zeitalter der Überinformation müsse man, so hat Hösle einmal geschrieben, gut überlegen, was noch lesenswert ist. Das stimmt wohl.

Dieter Schönecker

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