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Die Übertreibungskünstlerin. Kathrin Röggla, geboren 1971 in Salzburg. Im September erscheint ihr Buch „Nachtsendung. Unheimliche Geschichten“.

© imago/Reiner Zensen

Vizechefin der Akademie der Künste Kathrin Röggla: Gegenwart, ein Irrlicht

Autorin, Vizechefin der Akademie der Künste und Mutter von drei kleinen Kindern: Ein Hausbesuch bei Kathrin Röggla.

Das Maybachufer, an dem sie schon seit über zehn Jahren wohnt, gehört zu den schönsten Gegenden am Landwehrkanal. Es gibt dort inzwischen kleine schicke Läden und Manufakturen, wie den viel gerühmten dänischen Brotbäckerladen. Jedes zweite Paar auf der Straße spricht Englisch.

Eine fröhliche Kathrin Röggla öffnet die Tür zur quirlig-bunten Familienwohnung, kocht Kaffee, und der mittlere Sohn räumt gelassen das Wohnzimmer. Er kennt solche Interview- und Arbeitsbesuche, denn seine Mutter arbeitet viel von zu Hause aus. In die Akademie der Künste, deren Vizepräsidentin sie seit einem Jahr ist, geht sie meist nur zu Sitzungen und Veranstaltungen.

Wir sprechen über die vielen Kreativen, die hier im Reuter-Kiez ihre Ersparnisse in Eigentumswohnungen anlegen, und über die elenden alten Ecken von Neukölln, denen sie in ihrem Roman „Abrauschen“ ein liebevolles Denkmal gesetzt hat. Als sie 1992 nach Berlin kam und sich damit gegen New York entschied, gab die Umbruchsituation der Stadt den Ausschlag: das Offene, Unfertige, das ihr den Blick schärfte und das Schreiben beflügelte.

Die Gegenwart ist ein krisenhafter Moment

Kathrin Röggla ist eine ungeheuer produktive Autorin. Neben erzählender Prosa und medientheoretischen und soziologischen Essays schreibt sie auch Theaterstücke und Hörspiele. 1971 in Salzburg geboren, ist sie mit den sprachkritischen Texten der Wiener Gruppe aufgewachsen. Besonders Ernst Jandl verehrt sie und hat von ihm den Konjunktiv als Möglichkeitsraum übernommen. In ihrem neuen Hörspiel „Normalverdiener“ geht es um das Entstehen und Verschwinden solcher Räume und um das Verpassen der eigenen Gegenwart. Eine Gruppe von Schulfreunden, mittlerweile um die vierzig, verstrickt sich in immer absurder werdende Selbstoptimierungsfantasien, während sie die Katastrophe ignorieren, die sich vor ihren Augen abspielt. Die pointierten Dialoge zeigen eine von moralischen Ansprüchen paralysierte, blind egomanische und tieftraurige Generation.

Für Röggla gibt es kaum einen unklareren Begriff als Gegenwart: ein krisenhafter, auf eine Entscheidung hindrängender Moment, eingeklemmt zwischen ungewisser Vergangenheit und irrlichternder Zukunft und damit bestens geeignet, Panik zu erzeugen. Wie Thomas Bernhard ist sie eine Übertreibungskünstlerin, die durch listige Entstellung und feine Akzentverschiebungen die von den Medien erst erzeugte Wirklichkeit kenntlich macht – samt den kleinen, schmutzigen Geheimnissen, die sie im Innersten zusammenhalten.

Nach der Jahrtausendwende hat sie viel fürs Theater geschrieben, weil sich hier die Auflösung der Zeitebenen und die Macht des gegenwärtigen, gesprochenen Wortes in eine ästhetisch sprühende, sehr sinnliche Spannung setzen lassen. Aber das Theater, sagt sie, „ist ein schwieriges System: das Team muss funktionieren, es gibt ständige Fluktuation. Deshalb genieße ich im Moment die Ruhe beim Prosaschreiben.“

Ihre Bücher entstehen in vielen Schichten, die immer wieder variiert und umgebaut werden. Sie recherchiert lange, analysiert die „Fachsprachen“ ihrer Helden, der Banker, Entwicklungshelfer, Krisenmanager und Radiomoderatoren. „Nachtsendung“ heißt ihr jüngstes, im September bei S. Fischer erscheinendes Buch, das einen unheimlich gewordenen Alltag enthüllt und an die seelischen Katastrophen in „die alarmbereiten“ (2010) anknüpft. Außerdem ist in der Edition Text + Kritik für November ein 300-seitiger Sammelband mit Aufsätzen zu ihrem Werk angekündigt.

Wie Literatur zeitgemäß und gegenwärtig sein kann, darüber korrespondiert sie mit der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy, die sie begeistert, denn „ihre Art, Prosa zu schreiben, ist das beste Mittel gegen allen Populismus.“

An der Akademie der Künste reizt Röggla vor allem das breite Programm

Ein enormes, tägliches Schreib- und Lesepensum, drei kleine Kinder – und dazu noch die Akademie? Wie schafft sie das? „Man wird einfach mit Kindern sehr effizient“, lacht sie, außerdem sei die Akademie „wie eine zweite Ausbildung: ich sehe jetzt sehr genau und von innen, wie Politik gemacht wird, wie moralische und Macht-Ebene aneinanderstoßen und moralische Prämissen fast von Personal- und Strukturfragen zerrieben werden.“ Was ein Konflikt genau ist, wo und wie gehandelt wird oder eben nicht – damit wird sich ihr schon geplantes nächstes Buch beschäftigen: „Lauter Theaterfragen“, fügt sie augenzwinkernd an.

Gereizt hat sie an dem Akademie-Ehrenamt, dessen Arbeitsaufwand sie unterschätzte, vor allem das Verknüpfen der unterschiedlichen Bereiche. Das Programm reicht von Literatur über Tanz und Musik bis zu Foto, Film und Architektur. „Wir beraten ja nicht nur die Kulturpolitik, sondern beeinflussen auch die künstlerische Wissensbildung.“ Der interne Club, den sie initiiert hat, soll Vertreter aller Sparten ins Gespräch bringen, „bis in die Verwaltung und das Archiv hinein“. Vor allem das ist ihr Anliegen nach der tagespolitisch geprägten Ära Staeck, und dazu gehört, die über die ganze Welt verstreuten Künstler näher an die Akademie heranzuholen.

Mit der Filmregisseurin und Akademiepräsidentin Jeanine Meerapfel, die bei Alexander Kluge studiert hat, bilde sie ein konstruktives Team, sagt sie, und besonders lobt sie den Verwaltungsdirektor Manfred Fischer, der ihnen allen den Rücken freihält. Da betritt wie auf ein Stichwort ihr Mann, Leopold von Verschuer, den Raum. Als Regisseur von Rögglas Hörspiel „Normalverdiener“ verrät er, dass die Dialoge in realer Sprechgeschwindigkeit, mithin doppelt so schnell gesprochen sind wie im Radio sonst üblich. Der unglaubliche Sog aber, den das zynische, ratlose und brutale Reden entwickelt, seine Spannung und Komik entstehen durch die Präzision der Sprache und ihre spielerische Leichtigkeit – die herzustellen das Allerschwerste ist.

Nicole Henneberg

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