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Kultur: Vögelkundler

T. C. Boyle erzählt vom Sexforscher Kinsey

Es waren Bände voller Zahlen und Tabellen. Doch die beiden Sachbücher über das sexuelle Verhalten der Amerikaner, die der Zoologe Alfred C. Kinsey in den Vierziger- und Fünfzigerjahren veröffentlichte, machten ihn zum prominentesten Mann Amerikas. Der Forscher wollte das sexuelle Verhalten des „menschlichen Säugetiers“ nüchtern beschreiben. Und verändern: Kinsey stritt gegen die Moralvorstellungen seiner Zeit und praktizierte freie Liebe. Der Versuch, Sex gänzlich von Liebe und Ehe zu entkoppeln, gab Kinsey eine tragikomische Tiefe. Kürzlich wurde sein Leben von Bill Condon verfilmt. T. Coraghessan Boyle, der in seinen Büchern gerne eifrige Reformer mit Spott bedenkt, findet bei Kinsey den Stoff für seinen Roman „Dr. Sex“.

Erzählt wird von der Spannung zwischen wissenschaftlicher Kühle und heißem Begehren aus der Perspektive eines fiktiven Assistenten Kinseys. John Milk ist Günstling und Opfer zugleich. Professor Kinsey, den alle nur „Prok“ nennen, verhilft dem Studenten zu Job und Selbstbewusstsein. Aber er manipuliert ihn auch: Milk und die anderen Mitarbeiter müssen nach außen eine intakte Familie herzeigen, aber nach innen permanent beweisen, dass sie nicht verklemmt sind. Dazu gehört auch, mit Prok zu schlafen und Partner zu tauschen. Während dieser „Inner Circle“ (so der Originaltitel) auf den großen Ruhm hinarbeitet, manövriert er sich in die schleichende Abhängigkeit von Arbeitgeber Kinsey.

Das Problem mit dem Roman ist nur, dass er wenig Deutungsspielraum lässt: Der Schilderung der Ereignisse folgt sogleich ihre Interpretation. In diesem Sinne steht der Autor seiner Hauptfigur in Sachen Manipulationsfähigkeit kaum nach.

— T.C. Boyle: Dr. Sex. Roman. Aus dem Amerikanischen von

Dirk van Gunsteren.

Carl Hanser Verlag, München 2005.

472 Seiten, 24,90 €.

Daniel Völzke

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