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Kultur: "Voici": Im Wechselbad der Bilder

Museumsgänger wissen es: Gemälde reden - nicht nur miteinander, sondern sie sprechen auch die Betrachter an, mehr oder weniger direkt. Komm schon her, sagt manches in rüdem Ton, während das andere schüchtern zwinkert und mit einem Scherz Aufmerksamkeit auf sich lenkt.

Museumsgänger wissen es: Gemälde reden - nicht nur miteinander, sondern sie sprechen auch die Betrachter an, mehr oder weniger direkt. Komm schon her, sagt manches in rüdem Ton, während das andere schüchtern zwinkert und mit einem Scherz Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Gerade für diese Tricks lieben wir die alten Bilder. Die moderne Kunst steht im Ruf, hermetisch zu sein, ein Glasperlenspiel für Kenner.

Die Brüsseler Ausstellung "Voici" will mit diesem Vorurteil aufräumen. Der Anlass: Die belgische Kapitale gehört in diesem Jahr zu den acht europäischen Kulturhauptstädten und hat sich für das Millenniumsjahr besonders viel "Austausch und Interaktion, kreative Energie und Denken" verordnet, so der Intendant der Kulturprogramms Robert Palmer. Engagiert hat er dafür den belgischen Kunsthistoriker und Philosophen Thierry de Duve. Als pädagogischer Direktor der Pariser Kunstakademie kennt de Duve den Spagat zwischen Vermittlung und Qualität nur zu gut. Sein Brüsseler Ritt durchs 20. Jahrhundert, eine sehr persönliche Revue von Manet über Beuys bis zu Jeff Wall, verrät zwar viel über de Duves eigene Betrachtungsweisen; das Problem der Verständlichkeit zeitgenössischer Kunst löst sie jedoch kaum. Tragisch ist das nicht, denn seine Schau im Bau des Jugendstilarchitekten Victor Horta, dem Palais des Beaux-Arts, ist dennoch sehenswert.

"Voici" lautet der auffordernde Titel. Hier spricht das Kunstwerk selbst. Zwar ist es kein Wesen aus Fleisch und Blut, doch wir glauben ja an eine Seele des Kunstwerks und halten es für schützenswert wie eine lebendige Person. Warum sollte man es nicht entsprechend behandeln? De Duve macht das am Beispiel von 200 Werken, die er in drei Gruppen teilt: "Me voici" (Hier bin ich), "Vous voici" (Hier seid ihr) und "Nous voici" (Hier sind wir).

Als Symbol dient eine gleich im Eingang aufgestellte Skulptur des italienischen Bildhauers Fausto Melotti von 1936, die eine abstrahierte, gesichtslose Figur zeigt mit einem Handabdruck auf der Brust, als würde sie sich gleich zur Begrüßung vornüber beugen. Zum Glück bewahren nach diesem illustrativ-didaktischen Entrée die folgenden Ausstellungsstücke ihre Qualität und Autonomie, mag man sich auch fragen, warum ein Werk ausgerechnet dieser oder jener Themengruppe zugeordnet ist.

Vielleicht lehrt gerade das de Duves Schau: dass sich in der Kunst jeder auf seinen Kompass verlassen muss und gut gemeinte Ausstellungen wie diese noch am wenigsten Navigationshilfe leisten. Denn befreit vom Kontext bleibt dem Betrachter nur der ästhetische Genuss. Und so findet sich hier ein kubistisches Stillleben von Picasso, ein Foto aus der Equilibristen-Serie des Schweizer Duos Fischli & Weiss, Gerhard Richters Gemälde eines Totenschädels und das von Beuys "Wirtschaftswerte" getaufte Metallregal mit staubigen Zucker-, Mehl- und Salztüten aus dem DDR-Warenangebot, alles zu einem Ensemble vereint. Dass gute Kunst über sich hinausweist, wird spätestens bei einer Assemblage des Readymade-Erfinders Marcel Duchamp deutlich, der Marzipanfrüchte samt Plastikfliegen zu einen Vanitas-Ensemble, einem memento mori kombinierte.

Wie nie zuvor bezog im 20. Jahrhundert die Kunst den Betrachter ein. Durch ihn konstitutierte sich häufig erst ein Werk. Das Werk war zugleich die Projektionsfläche seiner eigenen Gedanken, sein alter ego, wie am Spiegelmotiv immer wieder ablesbar. Gerhard Richter, Léon Spillaert, Michael Snow, Pistoletto, die Künstlergruppe Art & Language haben dieses Mittel eingesetzt, um Künstler wie Betrachter mit sich zu konfrontieren. Nicht nur die spiegelnde Fläche, auch die undurchdringlichen Tiefen von Günter Umbergs pigmentbeschichteten Tafeln können das repräsentieren.

Ein wichtiges Argument für Thierry de Duves These vom Kommunikationsmodell Kunst ist deren physische Präsenz. Erstaunlicherweise wirkt das am überzeugendsten in einem Saal mit abstrakter Malerei, mit ihrer Fragilität und Unbestimmbarkeit der condition humaine. So scheint die kleine Tafel von Robert Ryman zu atmen; die seitlich mit Nägeln traktierte Leinwand Günter Ueckers verdichtet sich zum Bild des Schmerzes, und Lucio Fontanas "Concetto Spaziale" windet sich schier im Verstümmelungsakt. Die Fallhöhe von diesen subtilen Werken zu Gary Hills "Viewers", einer Videogalerie 17 farbiger Arbeiter, die den Ausstellungsbesucher in Lebensgröße unverwandt anschauen, könnte nicht größer sein.

Thierry de Duve taucht die Besucher in ein Wechselbad der Bilder, so dass man, ähnlich wie bei den hundert Porträts, die Roni Horn von einer jungen Isländerin in mal kaltem, mal heißem Wasser machte, das Gefühl für die Temperatur verliert. "You are the Weather", hat Roni Horn ihre Porträtserie getauft. Am Ende bleibt auch dem Besucher nichts anderes übrig, als sich selbst zum Maßstab der Wahrnehmung zu machen. Mag das Kunstwerk auch noch so sehr signalisieren: "Hier bin ich".

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