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Warum glauben wir? Griechisch Orthodoxe beim Ostergottesdienst in Nikosia auf Zypern.

© AFP

Volker Gerhardt über Glauben und Wissen: Ein Zug wird kommen

Vom begrenzten Sinn des Lebens: Der Philosoph Volker Gerhardt untersucht den Zusammenhang von Glauben und Wissen und zeigt, wie alle Menschen im weltlichen Sinn gläubig sind.

Die weltweite „Verdichtung religiöser Konflikte“ und der wachsende Einfluss von Technik und Wissenschaft als „Lebensmacht“ lassen sich kaum übersehen. Der bis vor zwei Jahren an der Humboldt-Universität lehrende Philosoph Volker Gerhardt klärt nun in einem kleinen Band über den notwendigen Zusammenhang von Glauben und Wissen auf. Und nicht nur das: Er will die „Unverzichtbarkeit des Glaubens gerade auch unter den Bedingungen des Wissens kenntlich machen“.

Welchen Glaubens, könnte man fragen. Denn das Heftchen ist auch für den religiös desinteressierten Leser aufschlussreich: Man sieht, wie sehr wir alle im weltlichen Sinn gläubig sind. Denn wir könnten das Wissen, an dem wir uns im Alltag orientieren, gar nicht nutzen, würden wir nicht davon ausgehen, dass es tatsächlich gilt. Und ignorieren, dass sein Wandel zu unserer Kultur gehört, dass es verfallen, veralten und unbrauchbar werden kann. Aber „natürlich muss niemand befürchten, dass die Ordnung der Zahlen plötzlich eine andere geworden ist, dass Sonne und Mond ihre Stellung vertauschen oder die Flüsse ihr Wasser bergauf befördern.“

Gerhardt liegt nichts daran, die Verunsicherung ins Absurde zu treiben. Ihm geht es darum, Wissen und Glauben als Fähigkeiten zu zeigen, die sich wechselseitig ergänzen. Keine kommt ohne die andere aus. Gleichberechtigt allerdings sind sie nicht. Es gibt einen Vorsprung des Glaubens, den das Wissen nicht aufholen kann. Er betrifft die existenzielle Ebene des Lebens. Und wird schon erkennbar, wenn man sich klarmacht, dass der Wandel des Wissens auch mit dessen Wachstum zu tun hat. Ständig neues Wissen, ständig neue Wissenschaften – und ständig neue Wissenslücken.

Gerhardt zögert den Übergang zum religiösen Glauben hinaus

Aus Gerhardts Sicht vergrößert sich auch die „existentielle Ratlosigkeit“, weil „das geballte Wissen aller Wissenschaften niemals ausreicht, um verlässlich zu handeln, in Sicherheit zu leben und in Ruhe zu sterben“. Man ahnt: Unter diesem Vorzeichen findet der Übergang zum religiösen Glauben statt. Gerhardt zögert ihn hinaus. Erst möchte er die qualitativen Pluspunkte zeigen, die für den Glauben charakteristisch sind. Betrifft das Wissen einen Sachverhalt, so verdanken wir dem Glauben, dass wir uns dazu auf verschiedene Weise verhalten können. Gerhardt bezeichnet ihn als eine „Einstellung“ zum Wissen. Wartet man zum Beispiel auf einen Zug, glaubt man selbstverständlich nicht nur, dass er eintrifft. Man weiß es durch einen Blick auf den Fahrplan. Aber man weiß auch, weshalb dieses Wissen fraglich ist, solange der Zug nicht tatsächlich eintrifft.

Prof. Dr. Volker Gerhardt, Autor von "Glauben und Wissen".
Prof. Dr. Volker Gerhardt, Autor von "Glauben und Wissen".

© Nicole Fiebig

Der Glaube, so Gerhardt, ist näher mit uns selbst verbunden. Er ist beweglicher, produktiver. Ein Ausdruck unserer Freiheit. Eine Kraft, um die Lücken des Wissens zu schließen, die wir oft gar nicht bemerken. Und das soll heißen, dass wir mit seiner Hilfe das Leben kontinuierlich so gestalten, dass es als Zusammenhang einen Sinn ergibt.

Jeder Mensch hat den Glauben nötig

Dieser Sinn ist begrenzt. Und mit der Gewissheit der eigenen Endlichkeit kann er zerbrechen: Was kommt danach? Und wozu soll das alles gut sein? „Es nicht bei der Beschränkung auf die faktische Gegenwart des von Bedeutung erfüllten Ganzen zu belassen, ist das auslösende Moment des religiösen Glaubens. In ihm wird das Göttliche – wenn nicht gefunden, so doch wenigstens gesucht.“

Das Rätsel des Findens. Wohlwissend hält sich der Philosoph dabei zurück, um möglichst nur von der Suchbewegung zu handeln. Aber wenn er die Wucht der dahinterstehenden Not betont, das Entsetzen, „dem absolut Sinnlosen“ ausgeliefert zu sein, dann versteht man die Botschaft: Jeder Mensch hat den Glauben nötig. Wer ihn findet, lebt getröstet und ruhig. Damit endet der Gewinn, den Atheisten, Zweifelnde oder Suchende aus der Lektüre ziehen. Gerhardt verliert sie aus den Augen. Er wendet sich an die religiösen Gemeinschaften der Welt, um einerseits deren Schutz, andererseits deren Einsatz zu fordern. Sein Entwurf eines globalen Gesprächs der Religionen, die „mit einer Stimme“ sprechen, wenn es um Fragen der Politik und den Prozess der Modernisierung geht, ist sicher gut gemeint. Aber das gilt für alle frommen Wünsche.

Volker Gerhardt: Glauben und Wissen. Ein notwendiger Zusammenhang. Reclam Verlag, Stuttgart 2016. 80 Seiten, 6 €.

Angelika Brauer

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