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Volksbühne: Morgenröte in Mitte

Dildile nennt sich das Festival – von Zunge zu Zunge oder von Sprache zu Sprache. Nachrichten aus einem Land im Umbruch: das türkische Literaturfestival in der Volksbühne.

Essen hat seit sechs Jahren ein türkisches Literaturfestival. In Berlin aber fand der Unionsverlag über Jahre kaum Ansprechpartner, um seine türkischen Autoren lesen zu lassen, nicht einmal, als die zwanzigbändige Türkische Bibliothek mit den literarischen Meilensteinen des 20. Jahrhunderts entstand. Am vergangenen Wochenende wurde nun in der Volksbühne das erste türkische Literaturfestival Berlins eröffnet, organisiert vom Verein Diyalog, der seit 15 Jahren das türkische Theaterfestival in Kreuzberg veranstaltet, und dem Orlanda Verlag.

Dildile nennt sich das Festival – von Zunge zu Zunge oder von Sprache zu Sprache, und sein erster Abend „Zwischen Trauma und Tabu“ brachte Geschichtsunterricht im Schnelldurchlauf. Die quicklebendige Rechtsanwältin Fethiye Cetin sprach über „Anneannem“ (Morgenröte), ihren Bestseller von 2004, in dem sie von ihrem späten Erwachen als Enkelin einer armenischen Großmutter erzählt. „My Grandmother“ liegt bisher nur in englischer Übersetzung vor. Außerdem berichtete Sema Kaygusuz (Tsp. vom 17. Januar), derzeit Stipendiatin des Berliner DAAD, über ihre alevitischen Wurzeln.

Die Türkei hat dem in Köln lebenden Schriftsteller Dogan Akhanli zufolge, der sich jüngst in seiner Heimat wie Kafkas Josef K. nicht nur in einem Prozess, sondern auch im Gefängnis wiederfand und nicht wusste wieso, noch viele geschichtliche Tabus in Angriff zu nehmen. Die strittigen Fragen, so Akhanli, liegen im Gründungsmythos der Republik von 1923 begraben. Die Vergangenheit werde ausgeblendet.

Man behaupte, die Türkei sei aus dem Nichts heraus entstanden. „Das stimmt nicht!“, erregte sich Akhanli. „Der türkische Staat ist gegründet worden hauptsächlich durch die Vernichtung der Armenier und durch die Vertreibung der Griechen. Und damit begann auch die Verleumdung der Kurden.“ Denn das Nationalstaatsprojekt lautete: ein Land – eine Sprache. Ein Land – eine Religion. „Und wenn wir nicht aufklären“, rief Akhanli, auf die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink vor vier Jahren anspielend, aus, „dann tötet die Geschichte weiter.“

Am Abend darauf einer der innovativsten türkischen Schriftsteller, der 38-jährige Murat Uyurkulak. Von ihm liegt seit drei Jahren auf Deutsch der Roman „Zorn“ beim Unionsverlag vor. Darin schildert Uyurkulak, drastisch und aufwühlend zugleich, das Leben und Lieben und Träumen der linksradikalen Szene in der Türkei der 1970er Jahre. Zusammen mit dem Berliner Schriftsteller Ulrich Peltzer diskutierte er über „Die (un)mögliche Revolution – Auf den Spuren der Linken in Ost und West“. Ein ähnlicher Brückenschlag am dritten Abend unter dem Motto „Erben der Erinnerung“, der die Heimatlosigkeit von Juden in der Türkei und in Deutschland beleuchtete.

Mario Levi ist hierzulande seit seinem Roman „Istanbul war ein Märchen“ (Surhkamp) bekannt. Darin macht er es dem deutschen Leser mit seinem ausschweifenden Erzählen nicht gerade leicht. Vielleicht erschien der zweite Roman „Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach“ deshalb auch gekürzt. Auf dem Podium plauderte Levi ironisch über seine Liebe zu Istanbul, über Sprache und Heimat, Erinnerung und Diaspora und über sein schönstes Lebensgefühl, „unterwegs zu sein“. Mit dem orthodox gläubigen Benjamin Stein, der im vergangenen Jahr seinen Roman „Die Leinwand“ veröffentlichte, war er sich darüber einig, warum jüdische Musiker häufig Geiger seien: „Die Geige kann man überallhin mitnehmen“, hatte schon Yehudi Menuhin erkannt.

An diesem Wochenende geht das Festival rein türkisch zu Ende – hoffentlich nicht für immer. Denn schon dieses Jahr stand Dildile finanziell auf wackligen Beinen. Heute tauschen sich Hakan Günday und Hatice Meryem, die am Samstag auch ihren Roman „Hauptsache ein Ehemann“ vorstellt, zum Thema Geschlechterrollen aus.

Weitere Informationen: www.dildile-literaturfestival.com

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