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Wolfsburg 1958. Eine der früheren Aufnahmen von Heinrich Heidersberger: Blick über den Mittellandkanal auf das alte Kraftwerk, noch ohne Schornsteine.

© bpk/Heinrich Heidersberger

Volkswagen und die Autostadt: Wir bauen eine Musterstadt

Mythos Volkswagen: Heinrich Heidersbergers legendäre Schwarzweißs-Fotografien aus Wolfsburg künden vom Fortschrittsglauben der Nachkriegsrepublik.

Es gab eine Zeit, da schien der Fortschritt in Deutschland zu wohnen. Der Ort, an dem sich das Wirtschaftswunder verdichtete, hieß Wolfsburg. Mehr Aufbruchsoptimismus war nirgends als in der aus einem gräflichen Gut, mehreren Dörfern und Teilen von Landkreisen entstandenen Stadt, die zur Produktionsstätte des „KdF-Wagens“ ausgebaut wurde. Als VW-Käfer fuhr das Auto weltweiten Verkaufsrekorden entgegen, eine Inkarnation des Qualitätssiegels „Made in Germany“ und beworben mit dem Slogan „Und läuft … und läuft … und läuft“. Es lief, Volkswagen stieg zum zeitweilig größten Autohersteller der Welt auf mit derzeit knapp 600 000 Mitarbeitern.

Heidersbergers Wolfsburg-Aufnahmen sind Symbolbilder für Kraft und Eleganz

Wo Schornsteine rauchen, da ist der Wohlstand zu Hause: Jetzt, angesichts des Skandals um die manipulierte Abgassoftware bei den Dieselmotoren, nehmen sich die historischen Aufnahmen von Heinrich Heidersberger fast mythisch aus. Heidersberger hat das Volkswagengelände häufig fotografiert und schuf damit Symbolbilder für die Kraft und die Eleganz der Autostadt. Zu sehen sind die kubische Backsteinarchitektur, später auch die steil in den Himmel strebenden Schornsteine, der Mittellandkanal, in dem die Autostadt sich spiegelt, die vor den Werksgebäuden aufgereihten Güterwagen, deren Kohlefracht hier zu Energie verwandelt wird. Auf Heidersbergers Fotografie „Kraftwerk der Volkswagen AG“ von 1971 ragt eine Eisenbrücke hinüber aufs andere Ufer des Kanals, wo der Fotograf steht. Das Bild wurde lange belichtet, deshalb wirken die Dampfwolken verschwommen, beinahe nebulös. Auf anderen Fotos ist der Himmel hoch, mit hingetupften Wolken, ein Ort voller Zukunftsversprechen.

Kein anderer Künstler hat hat Bild von Volkswagen stärker geprägt

Heinrich Heidersberger, 1906 in Ingolstadt geboren, hatte in Paris bei Fernand Léger Malerei studiert. Mit den Tricks und Techniken der Surrealisten war er vertraut. Seine Bilder demonstrieren, dass zwischen Rationalismus und Traum nur eine schmale Grenze liegt.

Kein anderer Künstler hat das Bild von VW bis heute stärker geprägt – und das Bild von Wolfsburg, der Stadt, die mit dem Schicksal des Unternehmens so untrennbar verwoben ist. Dabei stand er nie in Diensten der Firma, er blieb immer ein unabhängiger Fotograf. Heidersberger kam 1961 nach Wolfsburg, nachdem die Stadt ihm ein Atelier im Schloss angeboten hatte. Und er blieb, gründete zunächst gemeinsam mit anderen die Künstlergruppe Schloßstraße 8.

Seitdem halten seine Bilder den dynamischen Wandel des Ortes fest. Er dokumentierte den Bau des von Alvar Aalto entworfenen Kulturzentrums, zeigte den gigantischen Parkplatz vor dem Werk mit den VW-Modellen und vierspurig an Hochhausneubauten vorbei kreuzende Käfer. Geld war genug da, in dieser Musterstadt wurde entschlossen an einer besseren Bundesrepublik gebaut. Ein legendärer Fotoband von Heidersberger heißt „Bilder einer jungen Stadt“.

Jung, sympathisch, aufstrebend – so zeigt sich VW in diesen Nahansichten. „Schichtwechsel“ heißt ein gewaltiges Gruppenporträt, auf dem Dutzende VW-Mitarbeiter, ein Schwarz-Weiß-Ornament von Körpern in einreihigen Anzügen und Sekretärinnen-Kostümen, eine Treppe hinuntersteigen. Einige tragen Taschen, in denen Henkelmänner verstaut sein könnten, die traditionellen Behälter für die Essenspause. Doch vom Schweiß der Proletarierkultur liegt nichts über der Szene. Besser lässt sich die soziologische These von der Ablösung der Arbeiter- durch die Angestelltengesellschaft kaum veranschaulichen.

Heidersberger, der als einer der bedeutendsten Industrie- und Architekturfotografen der Bundesrepublik 2006 im Alter von 100 Jahren in Wolfsburg gestorben ist, hat auch das völlig überfüllte VW-Freibad in Wolfsburg fotografiert, vom Sprungturm aus, wo über ihm nur noch die Beine zweier Mutiger vom Zehn-Meter-Brett herabbaumeln. Und am Rand seines Bildes „9100/62.1 Schweißer am Band“ fällt der Schatten des Fotografen auf den Boden. Eine Signatur. Kotflügel hängen sauber aufgereiht am Fertigungsband, im Hintergrund arbeitet der Schweißer an der Tür eines Käfers.

Das Foto verströmt eine Aura von Präzision und Leidenschaft. Klassische Ingenieurstugenden, wie sie Volkswagen lange zugeschrieben wurden – bis vor einer Woche.

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