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Kultur: Vom Donner gerührt

Das eine ist die Krise in Griechenland, das andere sind die archäologischen Stätten und die kulturellen Schätze. Die Geschichte einer Entdeckung.

Die Autobahn war die zwischen Patras und Korinth, die in Wahrheit gar keine ist. Es gibt in beide Richtungen jeweils eine Fahrbahn und einen Pannenstreifen, auf den man sich verdrückt, wenn hinter einem jemand unbedingt überholen will. Sie galt immer als die gefährlichste Straße Griechenlands. In diesem Jahr aber sind erstmals die riskantesten Abschnitte mithilfe von Tausenden von Verkehrszeichen strikt einbahnig gemacht, nachdem Überholverbote niemand ernst nimmt. So kann man auch etwas entspannter die gelegentlichen Tafeln sehen, die verkünden, dass mithilfe der EU hier eine richtige Autobahn gebaut wird. Tatsächlich sieht man immer wieder halb fertige Brückenteile und Trassenbauten, allerdings keinen Bauarbeiter.

Es sah zunächst so aus, als sei der Wagen auf der Autobahn quer unterwegs. Erst beim Näherkommen stellte sich heraus, dass die rechte Autotür weit geöffnet war und ein großes Teil herausragte, so etwas wie ein Kühlschrank oder zumindest ein Bügelbrett. Es schien das Selbstverständlichste der Welt zu sein.

Die Griechen galten ja bis vor kurzem noch als heiter und lebensfroh, und es war jene Art Lebensfreude, die keinen Grund braucht. Von dieser Lebensfreude ist inzwischen nicht mehr viel geblieben, dafür allerdings gibt es Gründe, wenn auch nicht für alle Beteiligten dieselben.

Schon am Morgen sitzen in den griechischen Kleinstädten, in die auch diejenigen gern zurückkehren, die ihr Arbeitsleben in dem so ganz anderen Athen verbracht haben, die Pensionisten allesamt in den Cafés und erklären einander gegenseitig die Welt, vor allem die eigene. Das dient immerhin dem Gemeinschaftsgefühl, auch wenn dabei naturgemäß gern gestritten wird. Die Minuten, in denen sie zwischendurch einfach nur vor sich hinstarren, sind jedoch etwas länger geworden als noch vor Jahren.

Der Tourist, der nicht das erste Mal im Land ist, geht etwas beklommen daran vorbei, seine deutsche Zeitung fest unter den Arm geklemmt, mit dem unscharfen Gefühl, irgendetwas völlig falsch gemacht zu haben. Da er aber nicht die Kyria Merkel ist und außerdem auch nicht ins Grübeln verfallen will, ahnend, dass das zu nichts führen wird – schließlich hat er ja auch Ferien–, besinnt er sich seiner Kernkompetenz. Er beschließt, ein wenig herumzutouren.

Mein Ziel war Egira, eine kleinere Grabung an der Nordküste der Peloponnes, wo man auf der besagten Autobahn und dann noch ein wenig landeinwärts bergauf hinkommt. Ein Kollege hatte es mir ungefähr beschrieben. Grabungen, das sind die bescheideneren archäologischen Stätten, also nicht so etwas wie Delphi oder Mykene, aber sie sind in der Regel eingezäunt und bis drei Uhr nachmittags auch bewacht. Dann schließen sie, der Kenner aber weiß: Sie haben alle an verborgener Stelle ein Loch im Zaun oder die Möglichkeit, ihn zu übersteigen. Und da ich erst am späten Nachmittag da war, war mir die Möglichkeit hochwillkommen, und ich fand sie auch.

Also kletterte ich über den Zaun, da, wo die junge Kiefer steht (für die, die nachkommen wollen), sah, was ich flüchtig schon durch die Maschen gesehen hatte, und war wie vom Donner gerührt: Vor mir lag, in der Flanke des Bergs, ein nahezu vollständiges antikes Theater. Vom Donner gerührt, das sagt und schreibt sich so hin. Aber man muss heilfroh sein, dass es diesen Sager gibt. Denn bitte: wie ausdrücken oder gar schildern, was da vor mir lag und was da war? Da lagen in circa zwanzig Reihen übereinander angeordnet vor 2300 Jahren mit der Hand aus dem blaugrauen Felsen gehauene Steinblöcke, stockfleckig und rau, denen man ihr Alter, vor allem aber ihren Sinn sofort ansah und anfühlte.

Nein, ich habe da jetzt nicht im so genannten Geiste ein antikes Drama aufgeführt gesehen, sondern wenn schon, dann ein heutiges. Es kam mir vor wie die Wiederentdeckung von nichts Geringerem als der Kultur. Der Kultur an sich. Oder in sich. Oder so. Für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich etwas entdeckt zu haben, das vor langer Zeit verloren gegangen sein musste: der Sinn für Zusammenhänge. Der Sinn für einen Ort: da und sonst nirgendwo. Und der Sinn für die augenblickhafte Rückmeldung des Sacrums.

Das alles innerhalb eines touristischen Ausflugs. Die Anmutung eines Agnostikers. Gut, ich nehme das Sacrum auch gleich wieder zurück. Ich hätte auch ähnlich unklar sagen können: des Anderen. Aber für mich war in dem Moment überhaupt nichts unklar, im Gegenteil. Und wenn es Momente gibt, wo man mehr der Bildschirm ist als der Film, dann war das so einer. Es war großartig, auch wenn man sozusagen nichts damit anfangen kann. Oder doch?

Man könnte jetzt meinen: Da hört einer die Glocken läuten. Aber es war tatsächlich so. Ich hörte jetzt nämlich aus der gegenüberliegenden Bergwand, die inzwischen so rot leuchtete wie das Monument Valley am Abend, das Bimmeln einer Schafherde, was man mittlerweile auch in Griechenland nicht mehr so oft zu hören bekommt. Zu sehen war die Herde nicht, aber dafür sah das suchende Auge eine Landschaft, wie sie so typisch ist für dieses Land: auf kleinem Raum in immer überraschendem Wechsel sehr detaillierte Formen und sehr monumentale ineinander. Es ist unfassbar, und man fasst es nicht.

Ich könnte jetzt noch hinzufügen, einfach, weil es so war, dass auf dem Weg zurück zur Küstenstraße auf einmal ein riesiger rosiger Vollmond knapp über die Wasserlinie des Korinthischen Golfs aufgestiegen war – auch er unfassbar und fremd und gar nicht wie ‚Willkommen, o silberner Mond’, nein, eher wie Lars von Trier. Auf einmal war das jetzt gar nicht mehr Griechenland, sondern nur noch Abendland auf dem Weg nach Nachtland. Aber vielleicht sollte ich es mir verkneifen: Es klingt so privatistisch und nicht nach Krise und so, als ginge es womöglich nicht nur um Geld.

Das Nächste war dann wieder jene Autobahn, und weil auch das so war, sei noch hinzugefügt, dass nach einer Weile aus dem Autoradio einer der schönsten alten Rembetika-Songs zu hören war, der dem Autofahrer mit dem Bügelbrett sicher auch gefallen hätte. Taxi, Taxi, Taxim heißt es in diesem Song, ruf dir ein Taxi, steig mit dem rechten Fuß ein – was schwer ist, wenn man vom Bürgersteig aus einsteigt, aber der rechte ist nun mal der Glücksfuß – und dann hau dich hinein wie ein Pascha.

Und dann, fragt der finanz- und kulturbewusste Mitteleuropäer, und dann? Ach was, Herr Merkel, du hast ja keine Ahnung vom Taxifahren.

Jochen Jung ist Schriftsteller und Verleger des Salzburger Jung und Jung Verlags. Zuletzt erschien von ihm „Wolkenherz“ im Haymon Verlag.

Jochen Jung

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