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Kultur: Vom Drang nach Klarheit

Komm’, Schöpfer Geist: Pierre Boulez und die Staatskapelle Berlin triumphieren mit der Achten

Eigentlich ist Pierre Boulez dem Bekenner Mahler nicht sehr nah, und neulich in der Zweiten war er ihm so unverbindlich fern, dass selbst Strukturen litten. In der Sinfonie der Tausend aber, dieser Fusion aus Pfingsten und „Faust“, hat er über die Konstruktion auch die Metaphysik auf einer Ebene erschlossen, die so noch nie zu erleben war. Mit manchmal unheimlicher Klarheit verband der 82-Jährige Abstraktion und Sensibilität, machte im ersten Teil aus Chorfluten transparente Farbwände, konnte ein dreistimmiges Geigenpizzicato auf ein Holzbläserpianissimo so punktgenau treffen lassen wie in einem kosmischen Uhrwerk. Aus dem riesigen Werk entschwand alles dampfende Pathos, so dass jeder Hörer fürs Denken um so mehr Platz hatte. Wobei Boulez auf subtile Weise auch subjektiv eingriff – wenn er etwa ein Flötenintermezzo im zweiten Teil als kostbare Intarsie einsetzte, durch eine leichteTempozurücknahme, die Mahler in die Partitur zu schreiben vergaß.

In Dimensionen, wie Boulez sie entfaltete, wird die menschliche Stimme um so bedeutender. Hanno Müller-Brachmann sang die „schäumende Gotteslust“ wirklich mit der Glut eines Liebesbekenntnisses, mit gebündelter Fülle und Farbe, mit einer Verständlichkeit, die den übrigen Solisten mit Ausnahme von Soile Isokosi fehlte. Die Staatskapelle Berlin zeigte einmal mehr, dass sie nicht nur ein technisch überragendes, sondern mitdenkendes Ensemble ist, sich in ihrer Farblichkeit wandeln kann, ohne ihren griffigen Charakter zu verlieren. Im Scherzando klangen die Repetitionen der Holzbläser, als bewege sich eine sanfte Welle durchs Orchester nach vorn und wieder zurück – wie macht man das? Das kann vielleicht doch nur einer wie Boulez realisieren, der ähnliche Vorgänge in „Dérive“ selbst komponiert hat.

Und wann hat man die „seligen Knaben“ je so entrückt gehört, von den Streichern wie um stille Lichtjahre entfernt und doch genau mit ihnen korrespondierend? Neben den Aurelius Sängerknaben boten auch der Staatsopernchor und der Philharmonische Chor Prag Wundermomente schwebender Reinheit. Der „Chorus mysticus“ war da kein Fazit, sondern ein offener Raum, in dem Goethes Worte jenes Durchscheinende bekamen, das sie formulieren. Es war ein Abend, an dem Konzentration zu Erweiterung führte, an dem der „Schöpfer Geist“ selbst nicht von oben herab beschworen wurde, sondern aus dem Drang nach Klarheit mitten in der Welt entstand. Der Jubel währte lang danach.

Volker Hagedorn

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